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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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1. Abschnitt.baren Stillstandes und des politischen Schweigens. Es sind
die stärksten Gegensätze die sich denken lassen, und beide
sind wiederum mit nichts auf der Welt zu vergleichen.

Venedig.Venedig erkannte sich selbst als eine wunderbare, ge-
heimnißvolle Schöpfung, in welcher noch etwas Anderes
als Menschenwitz von jeher wirksam gewesen. Es gab einen
Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am
25. März 413 um Mittag hätten die Uebersiedler aus
Padua den Grundstein gelegt am Rialto, damit eine un-
angreifbare, heilige Freistätte sei in dem von den Barbaren
zerrissenen Italien. Spätere haben in die Seele dieser
Gründer alle Ahnungen der künftigen Größe hineingelegt;
M. Antonio Sabellico, der das Ereigniß in prächtig strö-
menden Hexametern gefeiert hat, läßt den Priester, der
die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: "Wenn wir
einst Großes wagen, dann gieb Gedeihen! jetzt knien wir
nur vor einem armen Altar, aber wenn unsere Gelübde
nicht umsonst sind, so steigen Dir, o Gott, hier einst hun-
dert Tempel von Marmor und Gold empor!" 1) -- Die
Die Stadt.Inselstadt selbst erschien zu Ende des XV. Jahrhunderts
wie das Schmuckkästchen der damaligen Welt. Derselbe
Sabellico schildert sie als solches 2) mit ihren uralten Kup-
pelkirchen, schiefen Thürmen, incrustirten Marmorfassaden,
mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken
und die Vermiethung jedes Winkels sich mit einander ver-
trugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor
S. Giacometto am Rialto, wo die Geschäfte einer Welt
sich nicht durch lautes Reden oder Schreien, sondern nur

1) Genethliacon, in seinen carmina. -- Vgl. Sansovino, Venezia,
fol. 203. -- Die älteste venezian. Chronik, bei Pertz, Monum. IX,
p.
5. 6. verlegt die Gründung der Inselorte erst in die longobar-
dische Zeit und die von Rialto ausdrücklich noch später.
2) De situ venetae urbis.

1. Abſchnitt.baren Stillſtandes und des politiſchen Schweigens. Es ſind
die ſtärkſten Gegenſätze die ſich denken laſſen, und beide
ſind wiederum mit nichts auf der Welt zu vergleichen.

Venedig.Venedig erkannte ſich ſelbſt als eine wunderbare, ge-
heimnißvolle Schöpfung, in welcher noch etwas Anderes
als Menſchenwitz von jeher wirkſam geweſen. Es gab einen
Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am
25. März 413 um Mittag hätten die Ueberſiedler aus
Padua den Grundſtein gelegt am Rialto, damit eine un-
angreifbare, heilige Freiſtätte ſei in dem von den Barbaren
zerriſſenen Italien. Spätere haben in die Seele dieſer
Gründer alle Ahnungen der künftigen Größe hineingelegt;
M. Antonio Sabellico, der das Ereigniß in prächtig ſtrö-
menden Hexametern gefeiert hat, läßt den Prieſter, der
die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: „Wenn wir
einſt Großes wagen, dann gieb Gedeihen! jetzt knien wir
nur vor einem armen Altar, aber wenn unſere Gelübde
nicht umſonſt ſind, ſo ſteigen Dir, o Gott, hier einſt hun-
dert Tempel von Marmor und Gold empor!” 1) — Die
Die Stadt.Inſelſtadt ſelbſt erſchien zu Ende des XV. Jahrhunderts
wie das Schmuckkäſtchen der damaligen Welt. Derſelbe
Sabellico ſchildert ſie als ſolches 2) mit ihren uralten Kup-
pelkirchen, ſchiefen Thürmen, incruſtirten Marmorfaſſaden,
mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken
und die Vermiethung jedes Winkels ſich mit einander ver-
trugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor
S. Giacometto am Rialto, wo die Geſchäfte einer Welt
ſich nicht durch lautes Reden oder Schreien, ſondern nur

1) Genethliacon, in ſeinen carmina. — Vgl. Sanſovino, Venezia,
fol. 203. — Die älteſte venezian. Chronik, bei Pertz, Monum. IX,
p.
5. 6. verlegt die Gründung der Inſelorte erſt in die longobar-
diſche Zeit und die von Rialto ausdrücklich noch ſpäter.
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[62/0072] baren Stillſtandes und des politiſchen Schweigens. Es ſind die ſtärkſten Gegenſätze die ſich denken laſſen, und beide ſind wiederum mit nichts auf der Welt zu vergleichen. 1. Abſchnitt. Venedig erkannte ſich ſelbſt als eine wunderbare, ge- heimnißvolle Schöpfung, in welcher noch etwas Anderes als Menſchenwitz von jeher wirkſam geweſen. Es gab einen Mythus von der feierlichen Gründung der Stadt: am 25. März 413 um Mittag hätten die Ueberſiedler aus Padua den Grundſtein gelegt am Rialto, damit eine un- angreifbare, heilige Freiſtätte ſei in dem von den Barbaren zerriſſenen Italien. Spätere haben in die Seele dieſer Gründer alle Ahnungen der künftigen Größe hineingelegt; M. Antonio Sabellico, der das Ereigniß in prächtig ſtrö- menden Hexametern gefeiert hat, läßt den Prieſter, der die Stadtweihe vollzieht, zum Himmel rufen: „Wenn wir einſt Großes wagen, dann gieb Gedeihen! jetzt knien wir nur vor einem armen Altar, aber wenn unſere Gelübde nicht umſonſt ſind, ſo ſteigen Dir, o Gott, hier einſt hun- dert Tempel von Marmor und Gold empor!” 1) — Die Inſelſtadt ſelbſt erſchien zu Ende des XV. Jahrhunderts wie das Schmuckkäſtchen der damaligen Welt. Derſelbe Sabellico ſchildert ſie als ſolches 2) mit ihren uralten Kup- pelkirchen, ſchiefen Thürmen, incruſtirten Marmorfaſſaden, mit ihrer ganz engen Pracht, wo die Vergoldung der Decken und die Vermiethung jedes Winkels ſich mit einander ver- trugen. Er führt uns auf den dichtwogenden Platz vor S. Giacometto am Rialto, wo die Geſchäfte einer Welt ſich nicht durch lautes Reden oder Schreien, ſondern nur Venedig. Die Stadt. 1) Genethliacon, in ſeinen carmina. — Vgl. Sanſovino, Venezia, fol. 203. — Die älteſte venezian. Chronik, bei Pertz, Monum. IX, p. 5. 6. verlegt die Gründung der Inſelorte erſt in die longobar- diſche Zeit und die von Rialto ausdrücklich noch ſpäter. 2) De situ venetæ urbis.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/72>, abgerufen am 29.03.2024.