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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800.

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Dritter Theil.
4. Höhere Seelenkräfte.
§ 515.

Der Ausbildung des Verstandes und der Vernunft be-
darf der Arzt, so wie jeder Beobachter der Natur, um in
jeder einzelnen Erscheinung nicht nur diese für sich, sondern
in ihr auch den Theil eines Ganzen zu sehen, um nicht an
den zunächst liegenden Gegenständen hängen zu bleiben, son-
dern einen höhern, allgemeinen Standpunct zu erklimmen.

§ 516.

Ganz besonders aber bedarf er einer geübten Urtheils-
kraft, denn sein ganzes Geschäft besteht eben darin, daß er
die vorkommenden Krankheiten einem allgemeinen Begriffe
unterordnet, und diesem Urtheile gemäß einen Heilplan festsetzt.

§ 517.

Die Urtheilskraft muß in ihren Würkungen behend
seyn, oder der Arzt muß eine stete Gegenwart des Geistes
behaupten, denn sehr oft ist die Entscheidung über das Leben
eines Menschen das Werk eines Augenblicks.

§ 518.

Sie muß ferner von dem Bewußtseyn ihrer Rich-
tigkeit
begleitet werden. Ist sie dies nicht: so wird der
Arzt durch jeden Umstand, welcher eine Gegenanzeige (369)
zu enthalten scheint, ungewiß g[e]macht, er schwankt von ei-
nem Mittel, von einer Methode zur andern, und stiftet
durch diesen Mangel an Festigkeit den größten Schaden.

Plaz progr. de inconstantia medica. Lips. 778. 4.
§ 519.

Hiervon hängt auch ihre Deutlichkeit ab. Nichts
ist gefährlicher, als wenn der Arzt die Gründe, welche ihn

zu
Dritter Theil.
4. Hoͤhere Seelenkraͤfte.
§ 515.

Der Ausbildung des Verſtandes und der Vernunft be-
darf der Arzt, ſo wie jeder Beobachter der Natur, um in
jeder einzelnen Erſcheinung nicht nur dieſe fuͤr ſich, ſondern
in ihr auch den Theil eines Ganzen zu ſehen, um nicht an
den zunaͤchſt liegenden Gegenſtaͤnden haͤngen zu bleiben, ſon-
dern einen hoͤhern, allgemeinen Standpunct zu erklimmen.

§ 516.

Ganz beſonders aber bedarf er einer geuͤbten Urtheils-
kraft, denn ſein ganzes Geſchaͤft beſteht eben darin, daß er
die vorkommenden Krankheiten einem allgemeinen Begriffe
unterordnet, und dieſem Urtheile gemaͤß einen Heilplan feſtſetzt.

§ 517.

Die Urtheilskraft muß in ihren Wuͤrkungen behend
ſeyn, oder der Arzt muß eine ſtete Gegenwart des Geiſtes
behaupten, denn ſehr oft iſt die Entſcheidung uͤber das Leben
eines Menſchen das Werk eines Augenblicks.

§ 518.

Sie muß ferner von dem Bewußtſeyn ihrer Rich-
tigkeit
begleitet werden. Iſt ſie dies nicht: ſo wird der
Arzt durch jeden Umſtand, welcher eine Gegenanzeige (369)
zu enthalten ſcheint, ungewiß g[e]macht, er ſchwankt von ei-
nem Mittel, von einer Methode zur andern, und ſtiftet
durch dieſen Mangel an Feſtigkeit den groͤßten Schaden.

Plaz progr. de inconſtantia medica. Lipſ. 778. 4.
§ 519.

Hiervon haͤngt auch ihre Deutlichkeit ab. Nichts
iſt gefaͤhrlicher, als wenn der Arzt die Gruͤnde, welche ihn

zu
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[158/0176] Dritter Theil. 4. Hoͤhere Seelenkraͤfte. § 515. Der Ausbildung des Verſtandes und der Vernunft be- darf der Arzt, ſo wie jeder Beobachter der Natur, um in jeder einzelnen Erſcheinung nicht nur dieſe fuͤr ſich, ſondern in ihr auch den Theil eines Ganzen zu ſehen, um nicht an den zunaͤchſt liegenden Gegenſtaͤnden haͤngen zu bleiben, ſon- dern einen hoͤhern, allgemeinen Standpunct zu erklimmen. § 516. Ganz beſonders aber bedarf er einer geuͤbten Urtheils- kraft, denn ſein ganzes Geſchaͤft beſteht eben darin, daß er die vorkommenden Krankheiten einem allgemeinen Begriffe unterordnet, und dieſem Urtheile gemaͤß einen Heilplan feſtſetzt. § 517. Die Urtheilskraft muß in ihren Wuͤrkungen behend ſeyn, oder der Arzt muß eine ſtete Gegenwart des Geiſtes behaupten, denn ſehr oft iſt die Entſcheidung uͤber das Leben eines Menſchen das Werk eines Augenblicks. § 518. Sie muß ferner von dem Bewußtſeyn ihrer Rich- tigkeit begleitet werden. Iſt ſie dies nicht: ſo wird der Arzt durch jeden Umſtand, welcher eine Gegenanzeige (369) zu enthalten ſcheint, ungewiß gemacht, er ſchwankt von ei- nem Mittel, von einer Methode zur andern, und ſtiftet durch dieſen Mangel an Feſtigkeit den groͤßten Schaden. Plaz progr. de inconſtantia medica. Lipſ. 778. 4. § 519. Hiervon haͤngt auch ihre Deutlichkeit ab. Nichts iſt gefaͤhrlicher, als wenn der Arzt die Gruͤnde, welche ihn zu

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Zitationshilfe: Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/176>, abgerufen am 28.03.2024.