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Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800.

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Wahl des Standes.
gerechte Urtheile des Pöbels mit kalter Verachtung straft;
daß er endlich keine Arbeit scheuet, wo es darauf ankommt,
Wahrheiten zu entdecken, und keinen litterarischen Despotis-
mus fürchtet, um sie öffentlich anzuerkennen und zu ver-
breiten.

§ 492.

Doch vermeide man bey dieser Prüfung alle mögliche
Täuschungen. Man kann nämlich bloß Interesse für die
Grundwissenschaften der Heilkunst haben, und daraus kann
man nicht im mindesten auf Neigung zur Heilkunst selbst
schließen. Man kann viel botanische, chemische, anatomi-
sche Kenntnisse in dem Gedächtnisse aufbewahren, ohne des-
halb zum eigentlichen Studium der Natur in der Physik und
Physiologie Kräfte und Willen zu haben; und man kann ein
scharfsinniger Naturforscher seyn, ohne gerade Neigung zu
haben, sich den Beschwerden der Praxis zu unterziehen.

§ 493.

2) Menschliches Interesse muß ferner den Arzt adeln,
denn ohne dieses wird er hart, fühllos, und erfüllt seine
Pflichten gegen den Staat und die Menschheit nur zur Hälfte.
Auch in den Fällen, wo er seine Kenntnisse nicht erweitern,
die Kunst nicht vervollkommen, ja selbst seinen Zweck (Hei-
lung) nicht ganz erreichen kann (§ 109), muß er jedem
Kranken beystehen, weil er doch die Macht hat, ihm sein
Unglück erträglicher zu machen, und also das allgemeine
Elend zu mindern.

§ 494.

Auf einem solchen wissenschaftlichen und menschlichen In-
teresse für die Kunst, muß der Wille, sie zu erlernen be-
gründet seyn. Dann ist er fest und unerschütterlich, und

kann
K 3

Wahl des Standes.
gerechte Urtheile des Poͤbels mit kalter Verachtung ſtraft;
daß er endlich keine Arbeit ſcheuet, wo es darauf ankommt,
Wahrheiten zu entdecken, und keinen litterariſchen Despotis-
mus fuͤrchtet, um ſie oͤffentlich anzuerkennen und zu ver-
breiten.

§ 492.

Doch vermeide man bey dieſer Pruͤfung alle moͤgliche
Taͤuſchungen. Man kann naͤmlich bloß Intereſſe fuͤr die
Grundwiſſenſchaften der Heilkunſt haben, und daraus kann
man nicht im mindeſten auf Neigung zur Heilkunſt ſelbſt
ſchließen. Man kann viel botaniſche, chemiſche, anatomi-
ſche Kenntniſſe in dem Gedaͤchtniſſe aufbewahren, ohne des-
halb zum eigentlichen Studium der Natur in der Phyſik und
Phyſiologie Kraͤfte und Willen zu haben; und man kann ein
ſcharfſinniger Naturforſcher ſeyn, ohne gerade Neigung zu
haben, ſich den Beſchwerden der Praxis zu unterziehen.

§ 493.

2) Menſchliches Intereſſe muß ferner den Arzt adeln,
denn ohne dieſes wird er hart, fuͤhllos, und erfuͤllt ſeine
Pflichten gegen den Staat und die Menſchheit nur zur Haͤlfte.
Auch in den Faͤllen, wo er ſeine Kenntniſſe nicht erweitern,
die Kunſt nicht vervollkommen, ja ſelbſt ſeinen Zweck (Hei-
lung) nicht ganz erreichen kann (§ 109), muß er jedem
Kranken beyſtehen, weil er doch die Macht hat, ihm ſein
Ungluͤck ertraͤglicher zu machen, und alſo das allgemeine
Elend zu mindern.

§ 494.

Auf einem ſolchen wiſſenſchaftlichen und menſchlichen In-
tereſſe fuͤr die Kunſt, muß der Wille, ſie zu erlernen be-
gruͤndet ſeyn. Dann iſt er feſt und unerſchuͤtterlich, und

kann
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[149/0167] Wahl des Standes. gerechte Urtheile des Poͤbels mit kalter Verachtung ſtraft; daß er endlich keine Arbeit ſcheuet, wo es darauf ankommt, Wahrheiten zu entdecken, und keinen litterariſchen Despotis- mus fuͤrchtet, um ſie oͤffentlich anzuerkennen und zu ver- breiten. § 492. Doch vermeide man bey dieſer Pruͤfung alle moͤgliche Taͤuſchungen. Man kann naͤmlich bloß Intereſſe fuͤr die Grundwiſſenſchaften der Heilkunſt haben, und daraus kann man nicht im mindeſten auf Neigung zur Heilkunſt ſelbſt ſchließen. Man kann viel botaniſche, chemiſche, anatomi- ſche Kenntniſſe in dem Gedaͤchtniſſe aufbewahren, ohne des- halb zum eigentlichen Studium der Natur in der Phyſik und Phyſiologie Kraͤfte und Willen zu haben; und man kann ein ſcharfſinniger Naturforſcher ſeyn, ohne gerade Neigung zu haben, ſich den Beſchwerden der Praxis zu unterziehen. § 493. 2) Menſchliches Intereſſe muß ferner den Arzt adeln, denn ohne dieſes wird er hart, fuͤhllos, und erfuͤllt ſeine Pflichten gegen den Staat und die Menſchheit nur zur Haͤlfte. Auch in den Faͤllen, wo er ſeine Kenntniſſe nicht erweitern, die Kunſt nicht vervollkommen, ja ſelbſt ſeinen Zweck (Hei- lung) nicht ganz erreichen kann (§ 109), muß er jedem Kranken beyſtehen, weil er doch die Macht hat, ihm ſein Ungluͤck ertraͤglicher zu machen, und alſo das allgemeine Elend zu mindern. § 494. Auf einem ſolchen wiſſenſchaftlichen und menſchlichen In- tereſſe fuͤr die Kunſt, muß der Wille, ſie zu erlernen be- gruͤndet ſeyn. Dann iſt er feſt und unerſchuͤtterlich, und kann K 3

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Zitationshilfe: Burdach, Karl Friedrich: Propädeutik zum Studium der gesammten Heilkunst. Leipzig, 1800, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burdach_propaedeutik_1800/167>, abgerufen am 25.04.2024.