Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783.

Bild:
<< vorherige Seite

"kommenheit ist ja nun einmahl doch nicht zu er-
"reichen; der bloße Versuch ist ein Hirngespinst.
"Ich mache es, so gut wie andre; warum solt'
"ich mich bemühen, das zu werden, was ich nicht
"werden kan, und nach dem gewöhnlichem Laufe
"der Dinge nicht zu werden brauche, nemlich
"volkommen?

Ich weiß sicher, ich darf dir nicht erst
die Schwachheit und Thorheit dieses Schlusses
aufdekken, wenn er anders den Nahmen eines
Schlusses verdient. Er würde uns ja von der
Anwendung aller und jeder unsrer Kräfte abhalten,
und ihr Einhalt thun. Ein Man von Verstande
und Muthe sagt vielmehr zu sich selbst, "wiewohl
"das Ziel der Volkommenheit, in Betrachtung
"der Unvolkommenheit unsrer Natur, nicht zu
"erreichen ist, so sol es doch an meiner Sorge,
"Bemühung und Aufmerksamkeit nicht fehlen, ihr
"so nahe als möglich zu kommen. Täglich wil ich
"mich ihr mehr nähern. Vielleicht kan ich sie zulezt
"erreichen. Wenigstens (und ich weiß sicher, das
"steht in meiner Macht) wil ich nicht weit davon
"bleiben."



Denk-

„kommenheit iſt ja nun einmahl doch nicht zu er-
„reichen; der bloße Verſuch iſt ein Hirngeſpinſt.
„Ich mache es, ſo gut wie andre; warum ſolt’
„ich mich bemuͤhen, das zu werden, was ich nicht
„werden kan, und nach dem gewoͤhnlichem Laufe
„der Dinge nicht zu werden brauche, nemlich
„volkommen?

Ich weiß ſicher, ich darf dir nicht erſt
die Schwachheit und Thorheit dieſes Schluſſes
aufdekken, wenn er anders den Nahmen eines
Schluſſes verdient. Er wuͤrde uns ja von der
Anwendung aller und jeder unſrer Kraͤfte abhalten,
und ihr Einhalt thun. Ein Man von Verſtande
und Muthe ſagt vielmehr zu ſich ſelbſt, “wiewohl
„das Ziel der Volkommenheit, in Betrachtung
„der Unvolkommenheit unſrer Natur, nicht zu
„erreichen iſt, ſo ſol es doch an meiner Sorge,
„Bemuͤhung und Aufmerkſamkeit nicht fehlen, ihr
„ſo nahe als moͤglich zu kommen. Taͤglich wil ich
„mich ihr mehr naͤhern. Vielleicht kan ich ſie zulezt
„erreichen. Wenigſtens (und ich weiß ſicher, das
„ſteht in meiner Macht) wil ich nicht weit davon
„bleiben.„



Denk-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0190" n="184"/>
&#x201E;kommenheit i&#x017F;t ja nun einmahl doch nicht zu er-<lb/>
&#x201E;reichen; der bloße Ver&#x017F;uch i&#x017F;t ein Hirnge&#x017F;pin&#x017F;t.<lb/>
&#x201E;Ich mache es, &#x017F;o gut wie andre; warum &#x017F;olt&#x2019;<lb/>
&#x201E;ich mich bemu&#x0364;hen, das zu werden, was ich nicht<lb/>
&#x201E;werden kan, und nach dem gewo&#x0364;hnlichem Laufe<lb/>
&#x201E;der Dinge nicht zu werden brauche, nemlich<lb/>
&#x201E;volkommen?</p><lb/>
        <p>Ich weiß &#x017F;icher, ich darf dir nicht er&#x017F;t<lb/>
die Schwachheit und Thorheit die&#x017F;es Schlu&#x017F;&#x017F;es<lb/>
aufdekken, wenn er anders den Nahmen eines<lb/>
Schlu&#x017F;&#x017F;es verdient. Er wu&#x0364;rde uns ja von der<lb/>
Anwendung aller und jeder un&#x017F;rer Kra&#x0364;fte abhalten,<lb/>
und ihr Einhalt thun. Ein Man von Ver&#x017F;tande<lb/>
und Muthe &#x017F;agt vielmehr zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, &#x201C;wiewohl<lb/>
&#x201E;das Ziel der Volkommenheit, in Betrachtung<lb/>
&#x201E;der Unvolkommenheit un&#x017F;rer Natur, nicht zu<lb/>
&#x201E;erreichen i&#x017F;t, &#x017F;o &#x017F;ol es doch an meiner Sorge,<lb/>
&#x201E;Bemu&#x0364;hung und Aufmerk&#x017F;amkeit nicht fehlen, ihr<lb/>
&#x201E;&#x017F;o nahe als mo&#x0364;glich zu kommen. Ta&#x0364;glich wil ich<lb/>
&#x201E;mich ihr mehr na&#x0364;hern. Vielleicht kan ich &#x017F;ie zulezt<lb/>
&#x201E;erreichen. Wenig&#x017F;tens (und ich weiß &#x017F;icher, das<lb/>
&#x201E;&#x017F;teht in meiner Macht) wil ich nicht weit davon<lb/>
&#x201E;bleiben.&#x201E;</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <fw place="bottom" type="catch">Denk-</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[184/0190] „kommenheit iſt ja nun einmahl doch nicht zu er- „reichen; der bloße Verſuch iſt ein Hirngeſpinſt. „Ich mache es, ſo gut wie andre; warum ſolt’ „ich mich bemuͤhen, das zu werden, was ich nicht „werden kan, und nach dem gewoͤhnlichem Laufe „der Dinge nicht zu werden brauche, nemlich „volkommen? Ich weiß ſicher, ich darf dir nicht erſt die Schwachheit und Thorheit dieſes Schluſſes aufdekken, wenn er anders den Nahmen eines Schluſſes verdient. Er wuͤrde uns ja von der Anwendung aller und jeder unſrer Kraͤfte abhalten, und ihr Einhalt thun. Ein Man von Verſtande und Muthe ſagt vielmehr zu ſich ſelbſt, “wiewohl „das Ziel der Volkommenheit, in Betrachtung „der Unvolkommenheit unſrer Natur, nicht zu „erreichen iſt, ſo ſol es doch an meiner Sorge, „Bemuͤhung und Aufmerkſamkeit nicht fehlen, ihr „ſo nahe als moͤglich zu kommen. Taͤglich wil ich „mich ihr mehr naͤhern. Vielleicht kan ich ſie zulezt „erreichen. Wenigſtens (und ich weiß ſicher, das „ſteht in meiner Macht) wil ich nicht weit davon „bleiben.„ Denk-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/190
Zitationshilfe: Campe, Joachim Heinrich: Theophron oder der erfahrne Rathgeber für die unerfahrne Jugend. Bd. 2. Hamburg, 1783, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/campe_theophron02_1783/190>, abgerufen am 28.03.2024.