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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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§. 231.

Es ist aber ferner zu bedenken, daß noch ein Unter-
schied beachtet werden müsse zwischen der Erscheinung der
Dinge und ihrem innersten Wesen, d. i. ihrer innern die Form
der Erscheinung bedingenden Idee. Nun sind aber die Sinne
dem Erfassen der Erscheinung allein bestimmt, keineswegs
aber wird es dadurch ausgeschlossen, daß die Idee des Or-
ganismus nicht unmittelbar afficirt werden könnte durch die
Verhältnisse und Veränderungen anderer mit ihm in einem
unermeßlichen Weltall eingeborener Ideen, ja es ist noth-
wendig, daß der Theil (und ein Organismus ist stets nur
ein solcher) afficirt werden müsse von den Umstimmungen
des Ganzen, zu welchem er gehört, und zwar unmittelbar,
und auf gleiche Weise, wie das Leben und Gefühl eines
einzelnen Organes im Körper sich ändert, jenachdem in an-
dern Organen, und folglich (da ein Theil nicht umgewan-
delt werden kann, ohne in gewisser Hinsicht das Ganze mit
zu ändern) auch im Ganzen wesentliche Umstimmungen Statt
gefunden haben. Dieses unmittelbare Wahrnehmen der
Verwandlungen im Leben anderer Wesen ist aber um so
nothwendiger, je mehr der Organismus integrirender Theil
der allgemeinen Natur ist, so sehen wir denn, daß das In-
sekt, welches nie den Winter erlebte, doch seine Eyer ge-
gen die Kälte desselben zu bergen weiß, so wird der Fisch
oder Vogel auf seinen weiten Wanderungen nach dem ihm
gesteckten Ziele gezogen, obwohl er es weder sehen, noch
riechen, noch fühlen kann, so vermeidet die geblendete Fle-
dermaus das aufgespannte Netz, so empfinden so viele Thiere
bevorstehende Witterungsänderungen, Erdbeben u. s. w. --
lauter Erscheinungen, deren Verständniß sich uns bald klar
eröffnen wird, sobald wir zu einer recht lebendigen An-
schauung der Natur in der Einheit uns erheben können,
welches indeß die Seele in ihren eigenen Tiefen erfassen
muß, welches ihr von außen nicht bewiesen werden kann,
und welches daher bey denen, welchen diese Ansichten noch
nicht eigen geworden waren, Anlaß gab, entweder solche Er-
scheinungen lieber geradezu zu läugnen, oder sich mit hypo-
thetischen Sinnesarten zu einer schwachen Erklärung zu ver-

§. 231.

Es iſt aber ferner zu bedenken, daß noch ein Unter-
ſchied beachtet werden muͤſſe zwiſchen der Erſcheinung der
Dinge und ihrem innerſten Weſen, d. i. ihrer innern die Form
der Erſcheinung bedingenden Idee. Nun ſind aber die Sinne
dem Erfaſſen der Erſcheinung allein beſtimmt, keineswegs
aber wird es dadurch ausgeſchloſſen, daß die Idee des Or-
ganismus nicht unmittelbar afficirt werden koͤnnte durch die
Verhaͤltniſſe und Veraͤnderungen anderer mit ihm in einem
unermeßlichen Weltall eingeborener Ideen, ja es iſt noth-
wendig, daß der Theil (und ein Organismus iſt ſtets nur
ein ſolcher) afficirt werden muͤſſe von den Umſtimmungen
des Ganzen, zu welchem er gehoͤrt, und zwar unmittelbar,
und auf gleiche Weiſe, wie das Leben und Gefuͤhl eines
einzelnen Organes im Koͤrper ſich aͤndert, jenachdem in an-
dern Organen, und folglich (da ein Theil nicht umgewan-
delt werden kann, ohne in gewiſſer Hinſicht das Ganze mit
zu aͤndern) auch im Ganzen weſentliche Umſtimmungen Statt
gefunden haben. Dieſes unmittelbare Wahrnehmen der
Verwandlungen im Leben anderer Weſen iſt aber um ſo
nothwendiger, je mehr der Organismus integrirender Theil
der allgemeinen Natur iſt, ſo ſehen wir denn, daß das In-
ſekt, welches nie den Winter erlebte, doch ſeine Eyer ge-
gen die Kaͤlte deſſelben zu bergen weiß, ſo wird der Fiſch
oder Vogel auf ſeinen weiten Wanderungen nach dem ihm
geſteckten Ziele gezogen, obwohl er es weder ſehen, noch
riechen, noch fuͤhlen kann, ſo vermeidet die geblendete Fle-
dermaus das aufgeſpannte Netz, ſo empfinden ſo viele Thiere
bevorſtehende Witterungsaͤnderungen, Erdbeben u. ſ. w. —
lauter Erſcheinungen, deren Verſtaͤndniß ſich uns bald klar
eroͤffnen wird, ſobald wir zu einer recht lebendigen An-
ſchauung der Natur in der Einheit uns erheben koͤnnen,
welches indeß die Seele in ihren eigenen Tiefen erfaſſen
muß, welches ihr von außen nicht bewieſen werden kann,
und welches daher bey denen, welchen dieſe Anſichten noch
nicht eigen geworden waren, Anlaß gab, entweder ſolche Er-
ſcheinungen lieber geradezu zu laͤugnen, oder ſich mit hypo-
thetiſchen Sinnesarten zu einer ſchwachen Erklaͤrung zu ver-

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[174/0194] §. 231. Es iſt aber ferner zu bedenken, daß noch ein Unter- ſchied beachtet werden muͤſſe zwiſchen der Erſcheinung der Dinge und ihrem innerſten Weſen, d. i. ihrer innern die Form der Erſcheinung bedingenden Idee. Nun ſind aber die Sinne dem Erfaſſen der Erſcheinung allein beſtimmt, keineswegs aber wird es dadurch ausgeſchloſſen, daß die Idee des Or- ganismus nicht unmittelbar afficirt werden koͤnnte durch die Verhaͤltniſſe und Veraͤnderungen anderer mit ihm in einem unermeßlichen Weltall eingeborener Ideen, ja es iſt noth- wendig, daß der Theil (und ein Organismus iſt ſtets nur ein ſolcher) afficirt werden muͤſſe von den Umſtimmungen des Ganzen, zu welchem er gehoͤrt, und zwar unmittelbar, und auf gleiche Weiſe, wie das Leben und Gefuͤhl eines einzelnen Organes im Koͤrper ſich aͤndert, jenachdem in an- dern Organen, und folglich (da ein Theil nicht umgewan- delt werden kann, ohne in gewiſſer Hinſicht das Ganze mit zu aͤndern) auch im Ganzen weſentliche Umſtimmungen Statt gefunden haben. Dieſes unmittelbare Wahrnehmen der Verwandlungen im Leben anderer Weſen iſt aber um ſo nothwendiger, je mehr der Organismus integrirender Theil der allgemeinen Natur iſt, ſo ſehen wir denn, daß das In- ſekt, welches nie den Winter erlebte, doch ſeine Eyer ge- gen die Kaͤlte deſſelben zu bergen weiß, ſo wird der Fiſch oder Vogel auf ſeinen weiten Wanderungen nach dem ihm geſteckten Ziele gezogen, obwohl er es weder ſehen, noch riechen, noch fuͤhlen kann, ſo vermeidet die geblendete Fle- dermaus das aufgeſpannte Netz, ſo empfinden ſo viele Thiere bevorſtehende Witterungsaͤnderungen, Erdbeben u. ſ. w. — lauter Erſcheinungen, deren Verſtaͤndniß ſich uns bald klar eroͤffnen wird, ſobald wir zu einer recht lebendigen An- ſchauung der Natur in der Einheit uns erheben koͤnnen, welches indeß die Seele in ihren eigenen Tiefen erfaſſen muß, welches ihr von außen nicht bewieſen werden kann, und welches daher bey denen, welchen dieſe Anſichten noch nicht eigen geworden waren, Anlaß gab, entweder ſolche Er- ſcheinungen lieber geradezu zu laͤugnen, oder ſich mit hypo- thetiſchen Sinnesarten zu einer ſchwachen Erklaͤrung zu ver-

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/194>, abgerufen am 16.04.2024.