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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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sie auch zunächst gar nicht auf sie gerichtet war, folgt sie
der fremden Willensrichtung, und unbewußt ahmt sie nach.
Daher
der außerordentliche Nachahmungstrieb der Kinder,
daher aber auch das Nachahmen von Thätigkeiten, welche
von niedern Organen geübt werden, z. B. der Trieb zum
Gähnen, wenn ein Anderer gähnt, die Ueblichkeiten oder das
wirkliche Erbrechen, wenn ein Anderer sich erbricht u. s. w.;
denn stets je niedriger die Funktion, um so mehr gehört
sie der Gesammtheit der Natur an, und um so mehr ent-
fernt sie sich von vernunftgemäßer Einheit und Freyheit.
So lange nun dieser Nachahmungstrieb in den Gränzen der
Naturgemäßheit bleibt, ist derselbe auch nicht als krankhaft
zu betrachten, zeigt es sich jedoch, daß dadurch in einem
Organismus, welcher zu freier Willensrichtung bestimmt ist,
und sie durch willkührlich geregelte Thätigkeit aussprechen
sollte, diese beeinträchtigt, die Freiheit aufgehoben werde, so
ist sie krankhaft, und es ergiebt sich, daß, je höher die
Reitzbarkeit überhaupt gesteigert ist, die Neigung zu diesem
krankhaften Zustande um so größer seyn müsse, Grund genug,
um einzusehen, warum die meisten auffallenden Beyspiele
krankhafter Nachahmungssucht *) das weibliche Geschlecht, und
zwar besonders in den Entwicklungsjahren, wo die Erreg-
barkeit immer größer ist (s. 211.) darbietet.

§. 244.

Ferner ist eine der sonderbarsten und seltensten Erschei-
nungen das Erhalten von Sinneseindrücken auf
ganz ungewöhnlichem Wege
, nämlich durch die Ma-
gengegend, oder andere sonst für diese Eindrücke unempfindliche
Körperstellen. Manche Schriftsteller zwar haben allen nähern
Erörterungen hierüber mit einem Male dadurch ausweichen
wollen, daß sie alle Beobachtungen dieser Art geradezu als
Täuschungen verwarfen, weil sie nicht mit ihren vorgefaßten
Meynungen von dem, was die Natur vermöge, zusammenstimm-

*) So Voerhaves bekannter Fall von denen im Waisenhause zu
Harlem laus Nachahmungstrieb mit Krämpfen befallenen Mädchen,
und ähnliche mehr.

ſie auch zunaͤchſt gar nicht auf ſie gerichtet war, folgt ſie
der fremden Willensrichtung, und unbewußt ahmt ſie nach.
Daher
der außerordentliche Nachahmungstrieb der Kinder,
daher aber auch das Nachahmen von Thaͤtigkeiten, welche
von niedern Organen geuͤbt werden, z. B. der Trieb zum
Gaͤhnen, wenn ein Anderer gaͤhnt, die Ueblichkeiten oder das
wirkliche Erbrechen, wenn ein Anderer ſich erbricht u. ſ. w.;
denn ſtets je niedriger die Funktion, um ſo mehr gehoͤrt
ſie der Geſammtheit der Natur an, und um ſo mehr ent-
fernt ſie ſich von vernunftgemaͤßer Einheit und Freyheit.
So lange nun dieſer Nachahmungstrieb in den Graͤnzen der
Naturgemaͤßheit bleibt, iſt derſelbe auch nicht als krankhaft
zu betrachten, zeigt es ſich jedoch, daß dadurch in einem
Organismus, welcher zu freier Willensrichtung beſtimmt iſt,
und ſie durch willkuͤhrlich geregelte Thaͤtigkeit ausſprechen
ſollte, dieſe beeintraͤchtigt, die Freiheit aufgehoben werde, ſo
iſt ſie krankhaft, und es ergiebt ſich, daß, je hoͤher die
Reitzbarkeit uͤberhaupt geſteigert iſt, die Neigung zu dieſem
krankhaften Zuſtande um ſo groͤßer ſeyn muͤſſe, Grund genug,
um einzuſehen, warum die meiſten auffallenden Beyſpiele
krankhafter Nachahmungsſucht *) das weibliche Geſchlecht, und
zwar beſonders in den Entwicklungsjahren, wo die Erreg-
barkeit immer groͤßer iſt (ſ. 211.) darbietet.

§. 244.

Ferner iſt eine der ſonderbarſten und ſeltenſten Erſchei-
nungen das Erhalten von Sinneseindruͤcken auf
ganz ungewoͤhnlichem Wege
, naͤmlich durch die Ma-
gengegend, oder andere ſonſt fuͤr dieſe Eindruͤcke unempfindliche
Koͤrperſtellen. Manche Schriftſteller zwar haben allen naͤhern
Eroͤrterungen hieruͤber mit einem Male dadurch ausweichen
wollen, daß ſie alle Beobachtungen dieſer Art geradezu als
Taͤuſchungen verwarfen, weil ſie nicht mit ihren vorgefaßten
Meynungen von dem, was die Natur vermoͤge, zuſammenſtimm-

*) So Voerhaves bekannter Fall von denen im Waiſenhauſe zu
Harlem laus Nachahmungstrieb mit Kraͤmpfen befallenen Maͤdchen,
und aͤhnliche mehr.
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[185/0205] ſie auch zunaͤchſt gar nicht auf ſie gerichtet war, folgt ſie der fremden Willensrichtung, und unbewußt ahmt ſie nach. Daher der außerordentliche Nachahmungstrieb der Kinder, daher aber auch das Nachahmen von Thaͤtigkeiten, welche von niedern Organen geuͤbt werden, z. B. der Trieb zum Gaͤhnen, wenn ein Anderer gaͤhnt, die Ueblichkeiten oder das wirkliche Erbrechen, wenn ein Anderer ſich erbricht u. ſ. w.; denn ſtets je niedriger die Funktion, um ſo mehr gehoͤrt ſie der Geſammtheit der Natur an, und um ſo mehr ent- fernt ſie ſich von vernunftgemaͤßer Einheit und Freyheit. So lange nun dieſer Nachahmungstrieb in den Graͤnzen der Naturgemaͤßheit bleibt, iſt derſelbe auch nicht als krankhaft zu betrachten, zeigt es ſich jedoch, daß dadurch in einem Organismus, welcher zu freier Willensrichtung beſtimmt iſt, und ſie durch willkuͤhrlich geregelte Thaͤtigkeit ausſprechen ſollte, dieſe beeintraͤchtigt, die Freiheit aufgehoben werde, ſo iſt ſie krankhaft, und es ergiebt ſich, daß, je hoͤher die Reitzbarkeit uͤberhaupt geſteigert iſt, die Neigung zu dieſem krankhaften Zuſtande um ſo groͤßer ſeyn muͤſſe, Grund genug, um einzuſehen, warum die meiſten auffallenden Beyſpiele krankhafter Nachahmungsſucht *) das weibliche Geſchlecht, und zwar beſonders in den Entwicklungsjahren, wo die Erreg- barkeit immer groͤßer iſt (ſ. 211.) darbietet. §. 244. Ferner iſt eine der ſonderbarſten und ſeltenſten Erſchei- nungen das Erhalten von Sinneseindruͤcken auf ganz ungewoͤhnlichem Wege, naͤmlich durch die Ma- gengegend, oder andere ſonſt fuͤr dieſe Eindruͤcke unempfindliche Koͤrperſtellen. Manche Schriftſteller zwar haben allen naͤhern Eroͤrterungen hieruͤber mit einem Male dadurch ausweichen wollen, daß ſie alle Beobachtungen dieſer Art geradezu als Taͤuſchungen verwarfen, weil ſie nicht mit ihren vorgefaßten Meynungen von dem, was die Natur vermoͤge, zuſammenſtimm- *) So Voerhaves bekannter Fall von denen im Waiſenhauſe zu Harlem laus Nachahmungstrieb mit Kraͤmpfen befallenen Maͤdchen, und aͤhnliche mehr.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/205>, abgerufen am 28.03.2024.