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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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sicht, denn wäre es nicht ein Widerspruch, wenn man sagte,
daß ein Organ sich selbst sähe? sieht ja doch sogar das Auge
nicht sich selbst. Vielmehr deuten alle diese Erscheinungen
so wie das Gefühl, welches in schweren Krankheiten nicht
selten bemerkt wird, und mir bey einem bösartigen Nerven-
fieber durch eigene Erfahrung bekannt wurde, wo der Kranke
nämlich sich doppelt glaubte und einzelne seiner Glieder als
zu einem andern Körper gehörig betrachtete, -- daß hier
Träume (welche indeß auch der Wirklichkeit zuweilen in ho-
hem Grade entsprechen können) sich gestalten. -- Eben deß-
halb ist aber auch auf die Richtigkeit dieser Vorstellungen
nicht zu viel zu geben, denn wenn schon beym wirklichen
Sehen viel davon abhängt, wie man sieht, und das rechte
Sehen
erst erlernt werden muß, ja um so mehr gesehen
wird, je mehr man weiß, so können in solchen ungewöhnli-
chen Wahrnehmungen, und zwar oft sehr unwissender Men-
schen, große Täuschungen leicht Statt finden, ohne daß man
diese Irrthümer deßhalb allein als Belege absichtlichen Be-
trugs aufstellen darf. -- Endlich ergiebt sich aber auch hier-
aus, daß auf diese Weise die Phantasie keine Bilder erhal-
ten wird, deren sie nicht bereits auf anderem Wege fähig
geworden ist; so z. B. daß keiner Blindgebornen durch
Magengegend oder Fingerspitzen u. s. w. Gesichtsvorstellungen
angeregt werden können, obwohl eine Blindgewordene deren
hierdurch eben so lange erhalten könnte, als ihr die Erinne-
rungen des Gesichtssinnes zurückbleiben.

§. 250.

Was nun die einzelnen Fälle solcher scheinbaren Sin-
nesversetzungen betrifft, so sind deren allerdings noch zu we-
nige genau beobachtet, als daß man angeben könnte, unter
welchen Umständen und bey welchen Individuen sie vor-
züglich bemerkt wurden; jedoch scheint es, als ob sie meistens
nur in Verbindung mit andern ungewöhnlichen Stimmungen
der Sensibilität, nämlich entweder in dem durch eigene Na-
turthätigkeit oder durch Kunst entstandenen Somnambulismus,
oder bey krampfhaften Zuständen, und namentlich bey der

ſicht, denn waͤre es nicht ein Widerſpruch, wenn man ſagte,
daß ein Organ ſich ſelbſt ſaͤhe? ſieht ja doch ſogar das Auge
nicht ſich ſelbſt. Vielmehr deuten alle dieſe Erſcheinungen
ſo wie das Gefuͤhl, welches in ſchweren Krankheiten nicht
ſelten bemerkt wird, und mir bey einem boͤsartigen Nerven-
fieber durch eigene Erfahrung bekannt wurde, wo der Kranke
naͤmlich ſich doppelt glaubte und einzelne ſeiner Glieder als
zu einem andern Koͤrper gehoͤrig betrachtete, — daß hier
Traͤume (welche indeß auch der Wirklichkeit zuweilen in ho-
hem Grade entſprechen koͤnnen) ſich geſtalten. — Eben deß-
halb iſt aber auch auf die Richtigkeit dieſer Vorſtellungen
nicht zu viel zu geben, denn wenn ſchon beym wirklichen
Sehen viel davon abhaͤngt, wie man ſieht, und das rechte
Sehen
erſt erlernt werden muß, ja um ſo mehr geſehen
wird, je mehr man weiß, ſo koͤnnen in ſolchen ungewoͤhnli-
chen Wahrnehmungen, und zwar oft ſehr unwiſſender Men-
ſchen, große Taͤuſchungen leicht Statt finden, ohne daß man
dieſe Irrthuͤmer deßhalb allein als Belege abſichtlichen Be-
trugs aufſtellen darf. — Endlich ergiebt ſich aber auch hier-
aus, daß auf dieſe Weiſe die Phantaſie keine Bilder erhal-
ten wird, deren ſie nicht bereits auf anderem Wege faͤhig
geworden iſt; ſo z. B. daß keiner Blindgebornen durch
Magengegend oder Fingerſpitzen u. ſ. w. Geſichtsvorſtellungen
angeregt werden koͤnnen, obwohl eine Blindgewordene deren
hierdurch eben ſo lange erhalten koͤnnte, als ihr die Erinne-
rungen des Geſichtsſinnes zuruͤckbleiben.

§. 250.

Was nun die einzelnen Faͤlle ſolcher ſcheinbaren Sin-
nesverſetzungen betrifft, ſo ſind deren allerdings noch zu we-
nige genau beobachtet, als daß man angeben koͤnnte, unter
welchen Umſtaͤnden und bey welchen Individuen ſie vor-
zuͤglich bemerkt wurden; jedoch ſcheint es, als ob ſie meiſtens
nur in Verbindung mit andern ungewoͤhnlichen Stimmungen
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turthaͤtigkeit oder durch Kunſt entſtandenen Somnambulismus,
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[190/0210] ſicht, denn waͤre es nicht ein Widerſpruch, wenn man ſagte, daß ein Organ ſich ſelbſt ſaͤhe? ſieht ja doch ſogar das Auge nicht ſich ſelbſt. Vielmehr deuten alle dieſe Erſcheinungen ſo wie das Gefuͤhl, welches in ſchweren Krankheiten nicht ſelten bemerkt wird, und mir bey einem boͤsartigen Nerven- fieber durch eigene Erfahrung bekannt wurde, wo der Kranke naͤmlich ſich doppelt glaubte und einzelne ſeiner Glieder als zu einem andern Koͤrper gehoͤrig betrachtete, — daß hier Traͤume (welche indeß auch der Wirklichkeit zuweilen in ho- hem Grade entſprechen koͤnnen) ſich geſtalten. — Eben deß- halb iſt aber auch auf die Richtigkeit dieſer Vorſtellungen nicht zu viel zu geben, denn wenn ſchon beym wirklichen Sehen viel davon abhaͤngt, wie man ſieht, und das rechte Sehen erſt erlernt werden muß, ja um ſo mehr geſehen wird, je mehr man weiß, ſo koͤnnen in ſolchen ungewoͤhnli- chen Wahrnehmungen, und zwar oft ſehr unwiſſender Men- ſchen, große Taͤuſchungen leicht Statt finden, ohne daß man dieſe Irrthuͤmer deßhalb allein als Belege abſichtlichen Be- trugs aufſtellen darf. — Endlich ergiebt ſich aber auch hier- aus, daß auf dieſe Weiſe die Phantaſie keine Bilder erhal- ten wird, deren ſie nicht bereits auf anderem Wege faͤhig geworden iſt; ſo z. B. daß keiner Blindgebornen durch Magengegend oder Fingerſpitzen u. ſ. w. Geſichtsvorſtellungen angeregt werden koͤnnen, obwohl eine Blindgewordene deren hierdurch eben ſo lange erhalten koͤnnte, als ihr die Erinne- rungen des Geſichtsſinnes zuruͤckbleiben. §. 250. Was nun die einzelnen Faͤlle ſolcher ſcheinbaren Sin- nesverſetzungen betrifft, ſo ſind deren allerdings noch zu we- nige genau beobachtet, als daß man angeben koͤnnte, unter welchen Umſtaͤnden und bey welchen Individuen ſie vor- zuͤglich bemerkt wurden; jedoch ſcheint es, als ob ſie meiſtens nur in Verbindung mit andern ungewoͤhnlichen Stimmungen der Senſibilitaͤt, naͤmlich entweder in dem durch eigene Na- turthaͤtigkeit oder durch Kunſt entſtandenen Somnambulismus, oder bey krampfhaften Zuſtaͤnden, und namentlich bey der

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/210>, abgerufen am 28.03.2024.