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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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und Selle entschieden, und unter den Neuern tritt ihnen
auch H. Jörg bey *), welcher selbst der Meynung ist, es
sey besser, den Namen der Krankheit zu vertilgen, zumal
da ihr Sitz nicht im Geschlechtssystem (worauf ihr Name
von ustera, uterus, deutet) und es daher schicklicher
wäre, sie als weibliche Hypochondrie zu bezeichnen, deren
Charakter von der männlichen Hypochondrie nur indem er
durch den Geschlechtscharakter modificirt werde, sich unter-
scheide. Entgegengesetzter Meynung sind Andere, z. B. H.
Haase **), welcher sowohl in den wesentlichen Krankheitser-
scheinungen, als in der Art sie zu behandeln wichtige Unter-
schiede zwischen beiden findet. -- Wir gedenken nun hier
zuerst die Art des Vorkommens und die Aeußerungen der
Hysterie zu schildern, und hoffen, daß sich sodann aus der
Betrachtung über das Wesentliche und Ursachliche dieser Er-
scheinungen auch das Verhältniß dieser Krankheit zur Hypo-
chondrie ergeben werde.

§. 297.

Der hysterische Zustand also, von welchem wir vorläufig
nur erinnern, daß er vorzüglich durch Störungen assimilativer
und reproduktiver Thätigkeit, verbunden mit Verstimmungen
im Leben des centralen und insbesondre des sympathischen
Nervensystems sich ausspreche, kommt zwar namentlich in
der eigentlich zeugungsfähigen Lebensperiode, vorzüglich zwi-
schen dem 20 -- 46sten oder 48sten Jahre vor, pflanzt sich
jedoch zuweilen auch auf das spätere Lebensalter fort, so wie
er mitunter wohl auch in der Entwicklungsperiode unter den
hier einheimischen, oben beschriebenen Nerveuleiden eine Stelle
mit einnimmt, ja viele derselben wohl erst selbst hervorruft. Ein
lebhaftes Temperament, eine reitzbare Körperconstitution, wie
sie namentlich zartgebauten Brünetten eigen zu seyn pflegt,
bilden ferner, verbunden mit stark entwickelter Geistesthätig-
keit, diejenige Individualität, welche dieser Krankheit am mei-

*) Krankheiten des menschlichen Weibes. S. 586.
**) Ueber die Erkenntniß und Kur der chronischen Krankheiten. 2r Th.
S. 282.

und Selle entſchieden, und unter den Neuern tritt ihnen
auch H. Joͤrg bey *), welcher ſelbſt der Meynung iſt, es
ſey beſſer, den Namen der Krankheit zu vertilgen, zumal
da ihr Sitz nicht im Geſchlechtsſyſtem (worauf ihr Name
von ὑστέρα, uterus, deutet) und es daher ſchicklicher
waͤre, ſie als weibliche Hypochondrie zu bezeichnen, deren
Charakter von der maͤnnlichen Hypochondrie nur indem er
durch den Geſchlechtscharakter modificirt werde, ſich unter-
ſcheide. Entgegengeſetzter Meynung ſind Andere, z. B. H.
Haaſe **), welcher ſowohl in den weſentlichen Krankheitser-
ſcheinungen, als in der Art ſie zu behandeln wichtige Unter-
ſchiede zwiſchen beiden findet. — Wir gedenken nun hier
zuerſt die Art des Vorkommens und die Aeußerungen der
Hyſterie zu ſchildern, und hoffen, daß ſich ſodann aus der
Betrachtung uͤber das Weſentliche und Urſachliche dieſer Er-
ſcheinungen auch das Verhaͤltniß dieſer Krankheit zur Hypo-
chondrie ergeben werde.

§. 297.

Der hyſteriſche Zuſtand alſo, von welchem wir vorlaͤufig
nur erinnern, daß er vorzuͤglich durch Stoͤrungen aſſimilativer
und reproduktiver Thaͤtigkeit, verbunden mit Verſtimmungen
im Leben des centralen und insbeſondre des ſympathiſchen
Nervenſyſtems ſich ausſpreche, kommt zwar namentlich in
der eigentlich zeugungsfaͤhigen Lebensperiode, vorzuͤglich zwi-
ſchen dem 20 — 46ſten oder 48ſten Jahre vor, pflanzt ſich
jedoch zuweilen auch auf das ſpaͤtere Lebensalter fort, ſo wie
er mitunter wohl auch in der Entwicklungsperiode unter den
hier einheimiſchen, oben beſchriebenen Nerveuleiden eine Stelle
mit einnimmt, ja viele derſelben wohl erſt ſelbſt hervorruft. Ein
lebhaftes Temperament, eine reitzbare Koͤrperconſtitution, wie
ſie namentlich zartgebauten Bruͤnetten eigen zu ſeyn pflegt,
bilden ferner, verbunden mit ſtark entwickelter Geiſtesthaͤtig-
keit, diejenige Individualitaͤt, welche dieſer Krankheit am mei-

*) Krankheiten des menſchlichen Weibes. S. 586.
**) Ueber die Erkenntniß und Kur der chroniſchen Krankheiten. 2r Th.
S. 282.
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[232/0252] und Selle entſchieden, und unter den Neuern tritt ihnen auch H. Joͤrg bey *), welcher ſelbſt der Meynung iſt, es ſey beſſer, den Namen der Krankheit zu vertilgen, zumal da ihr Sitz nicht im Geſchlechtsſyſtem (worauf ihr Name von ὑστέρα, uterus, deutet) und es daher ſchicklicher waͤre, ſie als weibliche Hypochondrie zu bezeichnen, deren Charakter von der maͤnnlichen Hypochondrie nur indem er durch den Geſchlechtscharakter modificirt werde, ſich unter- ſcheide. Entgegengeſetzter Meynung ſind Andere, z. B. H. Haaſe **), welcher ſowohl in den weſentlichen Krankheitser- ſcheinungen, als in der Art ſie zu behandeln wichtige Unter- ſchiede zwiſchen beiden findet. — Wir gedenken nun hier zuerſt die Art des Vorkommens und die Aeußerungen der Hyſterie zu ſchildern, und hoffen, daß ſich ſodann aus der Betrachtung uͤber das Weſentliche und Urſachliche dieſer Er- ſcheinungen auch das Verhaͤltniß dieſer Krankheit zur Hypo- chondrie ergeben werde. §. 297. Der hyſteriſche Zuſtand alſo, von welchem wir vorlaͤufig nur erinnern, daß er vorzuͤglich durch Stoͤrungen aſſimilativer und reproduktiver Thaͤtigkeit, verbunden mit Verſtimmungen im Leben des centralen und insbeſondre des ſympathiſchen Nervenſyſtems ſich ausſpreche, kommt zwar namentlich in der eigentlich zeugungsfaͤhigen Lebensperiode, vorzuͤglich zwi- ſchen dem 20 — 46ſten oder 48ſten Jahre vor, pflanzt ſich jedoch zuweilen auch auf das ſpaͤtere Lebensalter fort, ſo wie er mitunter wohl auch in der Entwicklungsperiode unter den hier einheimiſchen, oben beſchriebenen Nerveuleiden eine Stelle mit einnimmt, ja viele derſelben wohl erſt ſelbſt hervorruft. Ein lebhaftes Temperament, eine reitzbare Koͤrperconſtitution, wie ſie namentlich zartgebauten Bruͤnetten eigen zu ſeyn pflegt, bilden ferner, verbunden mit ſtark entwickelter Geiſtesthaͤtig- keit, diejenige Individualitaͤt, welche dieſer Krankheit am mei- *) Krankheiten des menſchlichen Weibes. S. 586. **) Ueber die Erkenntniß und Kur der chroniſchen Krankheiten. 2r Th. S. 282.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/252>, abgerufen am 24.04.2024.