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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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herauszunehmen und es von dem minder Wichtigen zu schei-
den, wobey man denn oft finden wird, daß gerade diejeni-
gen Symptome, worauf die Kranken in ihren Erzählungen
das meiste Gewicht legen, und die sie oft mit unermüd-
licher Redseligkeit schildern, weit weniger beachtet zu werden
verdienen als andere, welche sie oft während ihrem Berichte
ganz unwillkührlich verrathen oder nur nebenbey erwähnen.

§. 316.

Ferner ist nicht zu übersehen, daß diese Kranken eine
große Neigung haben, ihre Krankheitssymptome als recht ge-
fährlich vorzustellen, ja deren wirklich mitunter, aus einer
gewissen Sucht bewundert zu werden, erdichten; welches in-
deß den Arzt auch nicht dahin bringen darf, ihnen das Ge-
hör gänzlich zu versagen, als wodurch leicht eine nachtheilige
Spannung zwischen der Kranken und dem Arzte erzeugt,
und wenigstens die psychische Einwirkung des letztern gänzlich
gehemmt wird, ja welches zum Theil auch deßhalb ungerecht
wäre, da die Kranke ihr eingebildetes Leiden oft nicht min-
der heftig als ein wirkliches empfindet.

§. 317.

Bey der Behandlung selbst verdienen nun zwei Punkte
vorzüglich berücksichtigt zu werden: Erstens daß der Arzt alle
Gewalt, welche er über die Kranke besitzt, zunächst darauf
verwende, die Feststellung einer zweckmäßigen Lebensordnung
und Diät zu erhalten. -- In Vergehungen gegen solche
Regelmäßigkeit ist ja in den meisten Fällen die Ursache des
Krankseyns zu setzen und daher auch keine Hoffnung zur
Heilung zu fassen, wenn nicht die Kranken dahin zu bewe-
gen sind, zweckmäßigen Verordnungen in dieser Hinsicht sich
zu fügen. Zweitens aber muß im Allgemeinen gegen die
bey diesen Krankheiten so gewöhnliche blos symptomatische
oder palliative Behandlung gewarnt werden. Wie wir näm-
lich erinnert haben, ist zwar die Erscheinung der Krankheit
oft eine bloße Kette von Symptomen aufgeregter Sensibilität,
allein das Bedingende derselben ist vielmehr die Störung der
Reproduktion, und zwar sicher nicht blos in wiefern das

herauszunehmen und es von dem minder Wichtigen zu ſchei-
den, wobey man denn oft finden wird, daß gerade diejeni-
gen Symptome, worauf die Kranken in ihren Erzaͤhlungen
das meiſte Gewicht legen, und die ſie oft mit unermuͤd-
licher Redſeligkeit ſchildern, weit weniger beachtet zu werden
verdienen als andere, welche ſie oft waͤhrend ihrem Berichte
ganz unwillkuͤhrlich verrathen oder nur nebenbey erwaͤhnen.

§. 316.

Ferner iſt nicht zu uͤberſehen, daß dieſe Kranken eine
große Neigung haben, ihre Krankheitsſymptome als recht ge-
faͤhrlich vorzuſtellen, ja deren wirklich mitunter, aus einer
gewiſſen Sucht bewundert zu werden, erdichten; welches in-
deß den Arzt auch nicht dahin bringen darf, ihnen das Ge-
hoͤr gaͤnzlich zu verſagen, als wodurch leicht eine nachtheilige
Spannung zwiſchen der Kranken und dem Arzte erzeugt,
und wenigſtens die pſychiſche Einwirkung des letztern gaͤnzlich
gehemmt wird, ja welches zum Theil auch deßhalb ungerecht
waͤre, da die Kranke ihr eingebildetes Leiden oft nicht min-
der heftig als ein wirkliches empfindet.

§. 317.

Bey der Behandlung ſelbſt verdienen nun zwei Punkte
vorzuͤglich beruͤckſichtigt zu werden: Erſtens daß der Arzt alle
Gewalt, welche er uͤber die Kranke beſitzt, zunaͤchſt darauf
verwende, die Feſtſtellung einer zweckmaͤßigen Lebensordnung
und Diaͤt zu erhalten. — In Vergehungen gegen ſolche
Regelmaͤßigkeit iſt ja in den meiſten Faͤllen die Urſache des
Krankſeyns zu ſetzen und daher auch keine Hoffnung zur
Heilung zu faſſen, wenn nicht die Kranken dahin zu bewe-
gen ſind, zweckmaͤßigen Verordnungen in dieſer Hinſicht ſich
zu fuͤgen. Zweitens aber muß im Allgemeinen gegen die
bey dieſen Krankheiten ſo gewoͤhnliche blos ſymptomatiſche
oder palliative Behandlung gewarnt werden. Wie wir naͤm-
lich erinnert haben, iſt zwar die Erſcheinung der Krankheit
oft eine bloße Kette von Symptomen aufgeregter Senſibilitaͤt,
allein das Bedingende derſelben iſt vielmehr die Stoͤrung der
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[245/0265] herauszunehmen und es von dem minder Wichtigen zu ſchei- den, wobey man denn oft finden wird, daß gerade diejeni- gen Symptome, worauf die Kranken in ihren Erzaͤhlungen das meiſte Gewicht legen, und die ſie oft mit unermuͤd- licher Redſeligkeit ſchildern, weit weniger beachtet zu werden verdienen als andere, welche ſie oft waͤhrend ihrem Berichte ganz unwillkuͤhrlich verrathen oder nur nebenbey erwaͤhnen. §. 316. Ferner iſt nicht zu uͤberſehen, daß dieſe Kranken eine große Neigung haben, ihre Krankheitsſymptome als recht ge- faͤhrlich vorzuſtellen, ja deren wirklich mitunter, aus einer gewiſſen Sucht bewundert zu werden, erdichten; welches in- deß den Arzt auch nicht dahin bringen darf, ihnen das Ge- hoͤr gaͤnzlich zu verſagen, als wodurch leicht eine nachtheilige Spannung zwiſchen der Kranken und dem Arzte erzeugt, und wenigſtens die pſychiſche Einwirkung des letztern gaͤnzlich gehemmt wird, ja welches zum Theil auch deßhalb ungerecht waͤre, da die Kranke ihr eingebildetes Leiden oft nicht min- der heftig als ein wirkliches empfindet. §. 317. Bey der Behandlung ſelbſt verdienen nun zwei Punkte vorzuͤglich beruͤckſichtigt zu werden: Erſtens daß der Arzt alle Gewalt, welche er uͤber die Kranke beſitzt, zunaͤchſt darauf verwende, die Feſtſtellung einer zweckmaͤßigen Lebensordnung und Diaͤt zu erhalten. — In Vergehungen gegen ſolche Regelmaͤßigkeit iſt ja in den meiſten Faͤllen die Urſache des Krankſeyns zu ſetzen und daher auch keine Hoffnung zur Heilung zu faſſen, wenn nicht die Kranken dahin zu bewe- gen ſind, zweckmaͤßigen Verordnungen in dieſer Hinſicht ſich zu fuͤgen. Zweitens aber muß im Allgemeinen gegen die bey dieſen Krankheiten ſo gewoͤhnliche blos ſymptomatiſche oder palliative Behandlung gewarnt werden. Wie wir naͤm- lich erinnert haben, iſt zwar die Erſcheinung der Krankheit oft eine bloße Kette von Symptomen aufgeregter Senſibilitaͤt, allein das Bedingende derſelben iſt vielmehr die Stoͤrung der Reproduktion, und zwar ſicher nicht blos in wiefern das

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/265>, abgerufen am 24.04.2024.