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Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820.

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nach Willkühr über alle Kräfte des Geistes und Körpers zu be-
stimmen (Gegenwart des Geistes) vermißt; obwohl dagegen nicht
zu läugnen ist, daß das weibliche Geschlecht bey Ausdauer in klei-
nen Dingen, zu deren Ertragung oder Besiegung nicht sowohl
Muth und Kraft, als Geduld und Ruhe erforderlich sind,
häufig den Vorrang vor dem männlichen behauptet; worin
wir (um dieß beyläufig zu erinnern) gewiß den Hauptgrund
dafür finden können, daß das Weib weit mehr als der
Mann zum stätigen Beystande, zur ruhigen Verpflegung und
Besorgung Kranker, Gebärender, der Wöchnerinnen, so wie
der Neugebornen sich eignet.

§. 66.

Noch haben wir nun, bevor wir die allgemeinen phy-
siologischen Betrachtungen der weiblichen Individualität be-
schließen, die Entwicklung desselben nach seinen ein-
zelnen Lebensperioden
in einer Hauptübersicht zusam-
men zu stellen, wobey wir zuerst die Frage beleuchten müs-
sen, ob wohl überhaupt bereits im ersten Keime ein Unter-
schied der Geschlechter anzunehmen sey, oder ob völlige Gleich-
heit derselben uranfänglich vorhanden und vielleicht (wie einige
Physiologen wollen) zuerst alle Embryonen des weiblichen
Geschlechts seyn möchten? -- Wofern es aber gewiß ist,
daß die organische Bildung nur ein Hervortreten, ein Aus-
einanderweichen, ein Trennen eines ursprünglich Einfachen
in die verschiedenen Werkzeuge des Lebens sey, daß folglich
in diesem Einen und Zuerstgegebenen der Idee nach bereits
der ganze Organismus liege, und nur erst in der Zeit aus
diesem Einfachen wirklich werde (und diesen Satz stellen
Vernunft und Erfahrung gleichmäßig fest), so kann auch
aus diesem Keime nicht ein qualitativ Anderes hervorge-
hen, als der Idee nach darin gegeben war, obwohl quan-
titative
Abänderungen (z. B. durch unzureichende oder
übermäßig angefachte Bildungskraft, Hemmungen oder ab-
norme Vergrößerungen) sehr leicht möglich sind; und es ist
folglich erwiesen, daß die ersten Keime geschlechtlich verschie-
dener Individuen keineswegs allesamt weiblich, oder überhaupt
einander ganz gleich seyn könnten, wenn nicht alsobald die

nach Willkuͤhr uͤber alle Kraͤfte des Geiſtes und Koͤrpers zu be-
ſtimmen (Gegenwart des Geiſtes) vermißt; obwohl dagegen nicht
zu laͤugnen iſt, daß das weibliche Geſchlecht bey Ausdauer in klei-
nen Dingen, zu deren Ertragung oder Beſiegung nicht ſowohl
Muth und Kraft, als Geduld und Ruhe erforderlich ſind,
haͤufig den Vorrang vor dem maͤnnlichen behauptet; worin
wir (um dieß beylaͤufig zu erinnern) gewiß den Hauptgrund
dafuͤr finden koͤnnen, daß das Weib weit mehr als der
Mann zum ſtaͤtigen Beyſtande, zur ruhigen Verpflegung und
Beſorgung Kranker, Gebaͤrender, der Woͤchnerinnen, ſo wie
der Neugebornen ſich eignet.

§. 66.

Noch haben wir nun, bevor wir die allgemeinen phy-
ſiologiſchen Betrachtungen der weiblichen Individualitaͤt be-
ſchließen, die Entwicklung deſſelben nach ſeinen ein-
zelnen Lebensperioden
in einer Hauptuͤberſicht zuſam-
men zu ſtellen, wobey wir zuerſt die Frage beleuchten muͤſ-
ſen, ob wohl uͤberhaupt bereits im erſten Keime ein Unter-
ſchied der Geſchlechter anzunehmen ſey, oder ob voͤllige Gleich-
heit derſelben uranfaͤnglich vorhanden und vielleicht (wie einige
Phyſiologen wollen) zuerſt alle Embryonen des weiblichen
Geſchlechts ſeyn moͤchten? — Wofern es aber gewiß iſt,
daß die organiſche Bildung nur ein Hervortreten, ein Aus-
einanderweichen, ein Trennen eines urſpruͤnglich Einfachen
in die verſchiedenen Werkzeuge des Lebens ſey, daß folglich
in dieſem Einen und Zuerſtgegebenen der Idee nach bereits
der ganze Organismus liege, und nur erſt in der Zeit aus
dieſem Einfachen wirklich werde (und dieſen Satz ſtellen
Vernunft und Erfahrung gleichmaͤßig feſt), ſo kann auch
aus dieſem Keime nicht ein qualitativ Anderes hervorge-
hen, als der Idee nach darin gegeben war, obwohl quan-
titative
Abaͤnderungen (z. B. durch unzureichende oder
uͤbermaͤßig angefachte Bildungskraft, Hemmungen oder ab-
norme Vergroͤßerungen) ſehr leicht moͤglich ſind; und es iſt
folglich erwieſen, daß die erſten Keime geſchlechtlich verſchie-
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[48/0068] nach Willkuͤhr uͤber alle Kraͤfte des Geiſtes und Koͤrpers zu be- ſtimmen (Gegenwart des Geiſtes) vermißt; obwohl dagegen nicht zu laͤugnen iſt, daß das weibliche Geſchlecht bey Ausdauer in klei- nen Dingen, zu deren Ertragung oder Beſiegung nicht ſowohl Muth und Kraft, als Geduld und Ruhe erforderlich ſind, haͤufig den Vorrang vor dem maͤnnlichen behauptet; worin wir (um dieß beylaͤufig zu erinnern) gewiß den Hauptgrund dafuͤr finden koͤnnen, daß das Weib weit mehr als der Mann zum ſtaͤtigen Beyſtande, zur ruhigen Verpflegung und Beſorgung Kranker, Gebaͤrender, der Woͤchnerinnen, ſo wie der Neugebornen ſich eignet. §. 66. Noch haben wir nun, bevor wir die allgemeinen phy- ſiologiſchen Betrachtungen der weiblichen Individualitaͤt be- ſchließen, die Entwicklung deſſelben nach ſeinen ein- zelnen Lebensperioden in einer Hauptuͤberſicht zuſam- men zu ſtellen, wobey wir zuerſt die Frage beleuchten muͤſ- ſen, ob wohl uͤberhaupt bereits im erſten Keime ein Unter- ſchied der Geſchlechter anzunehmen ſey, oder ob voͤllige Gleich- heit derſelben uranfaͤnglich vorhanden und vielleicht (wie einige Phyſiologen wollen) zuerſt alle Embryonen des weiblichen Geſchlechts ſeyn moͤchten? — Wofern es aber gewiß iſt, daß die organiſche Bildung nur ein Hervortreten, ein Aus- einanderweichen, ein Trennen eines urſpruͤnglich Einfachen in die verſchiedenen Werkzeuge des Lebens ſey, daß folglich in dieſem Einen und Zuerſtgegebenen der Idee nach bereits der ganze Organismus liege, und nur erſt in der Zeit aus dieſem Einfachen wirklich werde (und dieſen Satz ſtellen Vernunft und Erfahrung gleichmaͤßig feſt), ſo kann auch aus dieſem Keime nicht ein qualitativ Anderes hervorge- hen, als der Idee nach darin gegeben war, obwohl quan- titative Abaͤnderungen (z. B. durch unzureichende oder uͤbermaͤßig angefachte Bildungskraft, Hemmungen oder ab- norme Vergroͤßerungen) ſehr leicht moͤglich ſind; und es iſt folglich erwieſen, daß die erſten Keime geſchlechtlich verſchie- dener Individuen keineswegs alleſamt weiblich, oder uͤberhaupt einander ganz gleich ſeyn koͤnnten, wenn nicht alſobald die

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Lehrbuch der Gynäkologie. Bd. 1. Leipzig, 1820, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_gynaekologie01_1820/68>, abgerufen am 28.03.2024.