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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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1. Die Geschichte der Freude.

Wie mächtig für Entstehung dieses Gefühls das un¬
bewußte Regen der Seele in den Bildungsvorgängen des
Organismus ist, zeigt das entschiedene Vorherrschen desselben
in den Jahren lebendigster Entwicklung und Jugend. Nicht
bloß dem heißen oft gewitterschwangern Tage geht die rosige
Eos voran, sondern auch einem heißen stürmischen, so wie
einem geschäftigen langweiligen spätern Leben die rosige
Freudenzeit der Jugend, während in reifern Jahren auch
ein Göthe in seinen versus memoriales sagen mußte:

"Jubilate ist ein seltner Fall."

Wie alle die übrigen primitiven Gefühle entsteht jedoch
auch die Freude aus zweifacher Wurzel, einmal ganz aus
der Nacht des Unbewußten und ein andermal aus der
Tagseite des bewußten Vorstellungslebens. Je erfrischter
die Gesundheit, je günstiger die Verhältnisse des Organis¬
mus zur Außenwelt, je rascher und normaler alle Lebens¬
functionen, desto günstiger für Entwicklung des Freudege¬
fühls von dieser Seite, ist die Stimmung, und dies Alles
wirft um so mächtiger ein, je weniger noch die Seele
als selbstbewußter Geist sich entwickelt hat. Je mehr hin¬
gegen das Bewußtsein ausgebildet ist, je vollkommener die
Seele im Denken sich bethätigt, um so mehr wird auch
das Freudegefühl nur aus diesen Quellen aufsteigen und
verhältnißmäßig kräftiger nach der unbewußten Seite sich
mittheilen, als die Aufregung des Unbewußten allein Macht
hat im Bewußtsein wiederzuklingen. Daher die so unend¬
lichen Verschiedenheiten freudiger Erregung in verschiedenen
Altern und bei verschiedenen Individualitäten. Das Kind,
das junge Mädchen, schon nicht ganz so der Knabe, sie
können von Freude erfüllt sein, sie wissen nicht warum;
ihre Züge sind freudig verklärt, ein heiteres Lachen um¬
spielt den Mund, die Augen leuchten mehr als sonst, und
alles Fragen nach einer Ursache würde vergeblich sein, oder

1. Die Geſchichte der Freude.

Wie mächtig für Entſtehung dieſes Gefühls das un¬
bewußte Regen der Seele in den Bildungsvorgängen des
Organismus iſt, zeigt das entſchiedene Vorherrſchen deſſelben
in den Jahren lebendigſter Entwicklung und Jugend. Nicht
bloß dem heißen oft gewitterſchwangern Tage geht die roſige
Eos voran, ſondern auch einem heißen ſtürmiſchen, ſo wie
einem geſchäftigen langweiligen ſpätern Leben die roſige
Freudenzeit der Jugend, während in reifern Jahren auch
ein Göthe in ſeinen versus memoriales ſagen mußte:

Jubilate iſt ein ſeltner Fall.“

Wie alle die übrigen primitiven Gefühle entſteht jedoch
auch die Freude aus zweifacher Wurzel, einmal ganz aus
der Nacht des Unbewußten und ein andermal aus der
Tagſeite des bewußten Vorſtellungslebens. Je erfriſchter
die Geſundheit, je günſtiger die Verhältniſſe des Organis¬
mus zur Außenwelt, je raſcher und normaler alle Lebens¬
functionen, deſto günſtiger für Entwicklung des Freudege¬
fühls von dieſer Seite, iſt die Stimmung, und dies Alles
wirft um ſo mächtiger ein, je weniger noch die Seele
als ſelbſtbewußter Geiſt ſich entwickelt hat. Je mehr hin¬
gegen das Bewußtſein ausgebildet iſt, je vollkommener die
Seele im Denken ſich bethätigt, um ſo mehr wird auch
das Freudegefühl nur aus dieſen Quellen aufſteigen und
verhältnißmäßig kräftiger nach der unbewußten Seite ſich
mittheilen, als die Aufregung des Unbewußten allein Macht
hat im Bewußtſein wiederzuklingen. Daher die ſo unend¬
lichen Verſchiedenheiten freudiger Erregung in verſchiedenen
Altern und bei verſchiedenen Individualitäten. Das Kind,
das junge Mädchen, ſchon nicht ganz ſo der Knabe, ſie
können von Freude erfüllt ſein, ſie wiſſen nicht warum;
ihre Züge ſind freudig verklärt, ein heiteres Lachen um¬
ſpielt den Mund, die Augen leuchten mehr als ſonſt, und
alles Fragen nach einer Urſache würde vergeblich ſein, oder

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[267/0283] 1. Die Geſchichte der Freude. Wie mächtig für Entſtehung dieſes Gefühls das un¬ bewußte Regen der Seele in den Bildungsvorgängen des Organismus iſt, zeigt das entſchiedene Vorherrſchen deſſelben in den Jahren lebendigſter Entwicklung und Jugend. Nicht bloß dem heißen oft gewitterſchwangern Tage geht die roſige Eos voran, ſondern auch einem heißen ſtürmiſchen, ſo wie einem geſchäftigen langweiligen ſpätern Leben die roſige Freudenzeit der Jugend, während in reifern Jahren auch ein Göthe in ſeinen versus memoriales ſagen mußte: „Jubilate iſt ein ſeltner Fall.“ Wie alle die übrigen primitiven Gefühle entſteht jedoch auch die Freude aus zweifacher Wurzel, einmal ganz aus der Nacht des Unbewußten und ein andermal aus der Tagſeite des bewußten Vorſtellungslebens. Je erfriſchter die Geſundheit, je günſtiger die Verhältniſſe des Organis¬ mus zur Außenwelt, je raſcher und normaler alle Lebens¬ functionen, deſto günſtiger für Entwicklung des Freudege¬ fühls von dieſer Seite, iſt die Stimmung, und dies Alles wirft um ſo mächtiger ein, je weniger noch die Seele als ſelbſtbewußter Geiſt ſich entwickelt hat. Je mehr hin¬ gegen das Bewußtſein ausgebildet iſt, je vollkommener die Seele im Denken ſich bethätigt, um ſo mehr wird auch das Freudegefühl nur aus dieſen Quellen aufſteigen und verhältnißmäßig kräftiger nach der unbewußten Seite ſich mittheilen, als die Aufregung des Unbewußten allein Macht hat im Bewußtſein wiederzuklingen. Daher die ſo unend¬ lichen Verſchiedenheiten freudiger Erregung in verſchiedenen Altern und bei verſchiedenen Individualitäten. Das Kind, das junge Mädchen, ſchon nicht ganz ſo der Knabe, ſie können von Freude erfüllt ſein, ſie wiſſen nicht warum; ihre Züge ſind freudig verklärt, ein heiteres Lachen um¬ ſpielt den Mund, die Augen leuchten mehr als ſonſt, und alles Fragen nach einer Urſache würde vergeblich ſein, oder

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/283>, abgerufen am 28.03.2024.