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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Verschiedenheit wirklich nicht actu vorhanden, so müßte sie
immer potentia da sein. Gewiß, das früheste menschliche
Ei wie das thierische, sie sind beide von kaum sichtbarer
Kleinheit, beide sind sphärische mehrfach in einander ge¬
schachtelte Bläschen, allerinnerst der sogenannte Keimfleck,
darum das Keimbläschen, darum die Dotterblase, und
darum die Chorionblase, und selbst dem bewaffneten Auge
wird es schwer möglich sein die Eizelle im Ovarium eines
Kaninchens oder einer Kuh von der Eizelle im Ovarium
der Frau zu unterscheiden, aber dies liegt bloß darin, daß
nothwendigerweise jede organische Bildung von der Dar¬
stellung der Hohlkugel ausgehen muß. Diese ideelle Hohl¬
kugel ist aber, wie wir schon früher bemerkten, in Bezie¬
hung auf die unendlich verschiedenen Weiterbildungen des
Organismus gleichsam der Mittelpunkt, von dem unendlich
viele Radien nach der Peripherie gedacht werden können.
Wie jeder dieser Radien dann, je näher dem Mittelpunkte,
um so näher auch den Anfängen der andern Radien er¬
scheint, so auch ist jene Reihenfolge der Entwicklung, um
so weiter zurück, um so mehr der Hohlkugel genähert; und
eben so wie nothwendig betrachtet, auch der Anfang jedes
Radius im Centrum mit den Anfängen aller andern mög¬
lichen Radien zusammenfällt und doch, weil er gerade die¬
sem
Radius angehört, selbst schon im Centrum als ein
andrer zu denken ist, so ist auch die allererste Keimzelle
des Eis allerdings überall nothwendig eine gleiche, aber
hinwiederum schon eben darum, weil sie für jedes verschie¬
dene Geschöpf dem Anfange einer andern und besondern
Entwicklungsreihe angehört, auch an sich jedesmal als eine
andere zu denken.

Somit kann denn also auch jene Betrachtung der ur¬
sprünglich scheinbaren Gleichheit ersten menschlichen und
thierischen Keims schlechterdings kein Grund sein eine wirk¬
liche erste und vollkommene Gleichheit des menschlichen
und thierischen Organismus zu behaupten.

Verſchiedenheit wirklich nicht actu vorhanden, ſo müßte ſie
immer potentia da ſein. Gewiß, das früheſte menſchliche
Ei wie das thieriſche, ſie ſind beide von kaum ſichtbarer
Kleinheit, beide ſind ſphäriſche mehrfach in einander ge¬
ſchachtelte Bläschen, allerinnerſt der ſogenannte Keimfleck,
darum das Keimbläschen, darum die Dotterblaſe, und
darum die Chorionblaſe, und ſelbſt dem bewaffneten Auge
wird es ſchwer möglich ſein die Eizelle im Ovarium eines
Kaninchens oder einer Kuh von der Eizelle im Ovarium
der Frau zu unterſcheiden, aber dies liegt bloß darin, daß
nothwendigerweiſe jede organiſche Bildung von der Dar¬
ſtellung der Hohlkugel ausgehen muß. Dieſe ideelle Hohl¬
kugel iſt aber, wie wir ſchon früher bemerkten, in Bezie¬
hung auf die unendlich verſchiedenen Weiterbildungen des
Organismus gleichſam der Mittelpunkt, von dem unendlich
viele Radien nach der Peripherie gedacht werden können.
Wie jeder dieſer Radien dann, je näher dem Mittelpunkte,
um ſo näher auch den Anfängen der andern Radien er¬
ſcheint, ſo auch iſt jene Reihenfolge der Entwicklung, um
ſo weiter zurück, um ſo mehr der Hohlkugel genähert; und
eben ſo wie nothwendig betrachtet, auch der Anfang jedes
Radius im Centrum mit den Anfängen aller andern mög¬
lichen Radien zuſammenfällt und doch, weil er gerade die¬
ſem
Radius angehört, ſelbſt ſchon im Centrum als ein
andrer zu denken iſt, ſo iſt auch die allererſte Keimzelle
des Eis allerdings überall nothwendig eine gleiche, aber
hinwiederum ſchon eben darum, weil ſie für jedes verſchie¬
dene Geſchöpf dem Anfange einer andern und beſondern
Entwicklungsreihe angehört, auch an ſich jedesmal als eine
andere zu denken.

Somit kann denn alſo auch jene Betrachtung der ur¬
ſprünglich ſcheinbaren Gleichheit erſten menſchlichen und
thieriſchen Keims ſchlechterdings kein Grund ſein eine wirk¬
liche erſte und vollkommene Gleichheit des menſchlichen
und thieriſchen Organismus zu behaupten.

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[151/0167] Verſchiedenheit wirklich nicht actu vorhanden, ſo müßte ſie immer potentia da ſein. Gewiß, das früheſte menſchliche Ei wie das thieriſche, ſie ſind beide von kaum ſichtbarer Kleinheit, beide ſind ſphäriſche mehrfach in einander ge¬ ſchachtelte Bläschen, allerinnerſt der ſogenannte Keimfleck, darum das Keimbläschen, darum die Dotterblaſe, und darum die Chorionblaſe, und ſelbſt dem bewaffneten Auge wird es ſchwer möglich ſein die Eizelle im Ovarium eines Kaninchens oder einer Kuh von der Eizelle im Ovarium der Frau zu unterſcheiden, aber dies liegt bloß darin, daß nothwendigerweiſe jede organiſche Bildung von der Dar¬ ſtellung der Hohlkugel ausgehen muß. Dieſe ideelle Hohl¬ kugel iſt aber, wie wir ſchon früher bemerkten, in Bezie¬ hung auf die unendlich verſchiedenen Weiterbildungen des Organismus gleichſam der Mittelpunkt, von dem unendlich viele Radien nach der Peripherie gedacht werden können. Wie jeder dieſer Radien dann, je näher dem Mittelpunkte, um ſo näher auch den Anfängen der andern Radien er¬ ſcheint, ſo auch iſt jene Reihenfolge der Entwicklung, um ſo weiter zurück, um ſo mehr der Hohlkugel genähert; und eben ſo wie nothwendig betrachtet, auch der Anfang jedes Radius im Centrum mit den Anfängen aller andern mög¬ lichen Radien zuſammenfällt und doch, weil er gerade die¬ ſem Radius angehört, ſelbſt ſchon im Centrum als ein andrer zu denken iſt, ſo iſt auch die allererſte Keimzelle des Eis allerdings überall nothwendig eine gleiche, aber hinwiederum ſchon eben darum, weil ſie für jedes verſchie¬ dene Geſchöpf dem Anfange einer andern und beſondern Entwicklungsreihe angehört, auch an ſich jedesmal als eine andere zu denken. Somit kann denn alſo auch jene Betrachtung der ur¬ ſprünglich ſcheinbaren Gleichheit erſten menſchlichen und thieriſchen Keims ſchlechterdings kein Grund ſein eine wirk¬ liche erſte und vollkommene Gleichheit des menſchlichen und thieriſchen Organismus zu behaupten.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 151. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/167>, abgerufen am 23.04.2024.