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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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3. Die Geschichte der Liebe.

Wenn man Freude und Trauer in gewisser Beziehung
als passive und subjective Gefühle bezeichnen kann, indem
sie mehr in sich ruhen und ohne bestimmte Begehrungen
oder Ablehnungen nach außen erscheinen, so treten dagegen
Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬
fühle auf, da ihr innerstes Wesen darauf beruht, entschieden
aus sich herauszugehen, entschieden das Geliebte anzuziehen
und von ihm angezogen zu werden, und eben so entschieden
das Verhaßte zurückzustoßen und sich von ihm zurückstoßen
zu lassen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal
eine gewisse Gewaltsamkeit, und können in einzelnen Fällen
zu einer Heftigkeit sich steigern, unter welcher das ganze
Dasein des Menschen zusammenbricht, ja, des damit ver¬
bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen
nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, sondern
Leidenschaften. Freude und Trauer können nicht zur
Leidenschaft werden, und selbst von den beiden activen ist
das Positive so weit mächtiger, aber auch so weit mehr
zum Uebergang in Leidenschaft geeignet, als das negative.

Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬
schichte des mächtigsten aller Gefühle, in die der Liebe, so
muß vor allen Dingen lebendig festgehalten werden, daß,
wie jedes, so auch dieses, und namentlich dieses, nur halb
auf dem Bewußtsein und zur andern Hälfte auf dem Un¬
bewußtsein ruht. Wenn wir nun im Bewußtsein etwas
in seinen Eigenschaften untersuchen, und, weil wir diese
als vortrefflich erkennen, unser Gefallen daran empfinden
und wohl auch, eben dieser Vortrefflichkeit wegen, wünschen
diesem Gegenstand nahe zu bleiben und ihn bleibend um
uns zu haben, so ist das Unbewußte in uns dabei durch¬
aus unbetheiligt; aber eben darum ist auch alsdann von
Liebe schlechterdings nicht die Rede. Liebe setzt also nothwen¬
dig voraus ein tieferes Ergriffensein zugleich des Unbe¬

3. Die Geſchichte der Liebe.

Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung
als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem
ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen
oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen
Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬
fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden
aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen
und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden
das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen
zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal
eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen
zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze
Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬
bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen
nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern
Leidenſchaften. Freude und Trauer können nicht zur
Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt
das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr
zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative.

Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬
ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo
muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß,
wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb
auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬
bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas
in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe
als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden
und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen
dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um
uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬
aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von
Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬
dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich des Unbe¬

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[282/0298] 3. Die Geſchichte der Liebe. Wenn man Freude und Trauer in gewiſſer Beziehung als paſſive und ſubjective Gefühle bezeichnen kann, indem ſie mehr in ſich ruhen und ohne beſtimmte Begehrungen oder Ablehnungen nach außen erſcheinen, ſo treten dagegen Liebe und Haß als active und zugleich mehr objective Ge¬ fühle auf, da ihr innerſtes Weſen darauf beruht, entſchieden aus ſich herauszugehen, entſchieden das Geliebte anzuziehen und von ihm angezogen zu werden, und eben ſo entſchieden das Verhaßte zurückzuſtoßen und ſich von ihm zurückſtoßen zu laſſen. Beide active Gefühle erhalten dadurch allemal eine gewiſſe Gewaltſamkeit, und können in einzelnen Fällen zu einer Heftigkeit ſich ſteigern, unter welcher das ganze Daſein des Menſchen zuſammenbricht, ja, des damit ver¬ bundenen Schmerzes, der daran geknüpften Leiden wegen nennen wir dann Liebe und Haß nicht mehr Gefühle, ſondern Leidenſchaften. Freude und Trauer können nicht zur Leidenſchaft werden, und ſelbſt von den beiden activen iſt das Poſitive ſo weit mächtiger, aber auch ſo weit mehr zum Uebergang in Leidenſchaft geeignet, als das negative. Uebernehmen wir jetzt tiefer einzudringen in die Ge¬ ſchichte des mächtigſten aller Gefühle, in die der Liebe, ſo muß vor allen Dingen lebendig feſtgehalten werden, daß, wie jedes, ſo auch dieſes, und namentlich dieſes, nur halb auf dem Bewußtſein und zur andern Hälfte auf dem Un¬ bewußtſein ruht. Wenn wir nun im Bewußtſein etwas in ſeinen Eigenſchaften unterſuchen, und, weil wir dieſe als vortrefflich erkennen, unſer Gefallen daran empfinden und wohl auch, eben dieſer Vortrefflichkeit wegen, wünſchen dieſem Gegenſtand nahe zu bleiben und ihn bleibend um uns zu haben, ſo iſt das Unbewußte in uns dabei durch¬ aus unbetheiligt; aber eben darum iſt auch alsdann von Liebe ſchlechterdings nicht die Rede. Liebe ſetzt alſo nothwen¬ dig voraus ein tieferes Ergriffenſein zugleich des Unbe¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/298>, abgerufen am 19.04.2024.