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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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wußten unserer Seele, und hier liegt das Mysterium,
das bei der Liebe tausendfältig empfunden, von wahrhaften
Dichtern in seiner vollen Macht begriffen und dargestellt,
aber von den Forschenden fast nie mit in Erwägung ge¬
zogen worden ist, wenn von dem Erkennen des Wesens
der Liebe die Rede war.

Vor Allem ist es indeß nöthig, daß wir beachten wie
verschiedenartig
der Gegenstand der Liebe sein könne:
-- Die Universalität und Macht dieses Gefühls spricht sich
auch hierin aus, eine Universalität und Macht, deren das
andere objective Gefühl, der Haß, niemals fähig ist. Durch
unbewußten Zug und bewußte Erkenntniß kann nämlich
eben die Liebe in Wahrheit das Geringste und hinwiederum
das Höchste umfassen; vom Hangen am Boden und an der
Wohnstätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen
und Thieren, wendet sie sich, als zum eigentlichen Mittel¬
punkte ihrer Existenz, zur Liebe zum Menschen, der
Liebe zu sich selbst, zu Freunden, Eltern, Geschwistern, Kindern,
und zumeist zur Liebe des andern Geschlechts, und steigert sich
endlich bis zur Liebe zu Gott. Nach diesen verschiedenen
Gegenständen nimmt sie selbst unendliche verschiedene Nüancen
an, und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit
von Zuständen aus, welche erschöpfend zu beschreiben und
zu erklären gänzlich unmöglich wird. Fassen wir daher
Das zunächst ausschließend und nahe ins geistige Auge,
was wir den wahren Mittelpunkt dieses Gefühls, ich möchte
überhaupt sagen, das Urgefühl nennen dürfen, und was
auch die Sprache oft ausschließend mit dem Namen der
Liebe bezeichnet, d. h. die Liebe der Geschlechter gegen ein¬
ander, und wir werden, eben weil dem so ist, daran das
Wesen dieses Gefühls am lebendigsten zu begreifen ver¬
mögen, so daß es dann leichter werden wird, über die
geringeren Zweige wie über die höchste Blüthe desselben
mit wenigen Andeutungen genügende Erkenntniß zu ver¬
breiten: -- Niemand wird indeß auch jenes tiefste und innigste

wußten unſerer Seele, und hier liegt das Myſterium,
das bei der Liebe tauſendfältig empfunden, von wahrhaften
Dichtern in ſeiner vollen Macht begriffen und dargeſtellt,
aber von den Forſchenden faſt nie mit in Erwägung ge¬
zogen worden iſt, wenn von dem Erkennen des Weſens
der Liebe die Rede war.

Vor Allem iſt es indeß nöthig, daß wir beachten wie
verſchiedenartig
der Gegenſtand der Liebe ſein könne:
— Die Univerſalität und Macht dieſes Gefühls ſpricht ſich
auch hierin aus, eine Univerſalität und Macht, deren das
andere objective Gefühl, der Haß, niemals fähig iſt. Durch
unbewußten Zug und bewußte Erkenntniß kann nämlich
eben die Liebe in Wahrheit das Geringſte und hinwiederum
das Höchſte umfaſſen; vom Hangen am Boden und an der
Wohnſtätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen
und Thieren, wendet ſie ſich, als zum eigentlichen Mittel¬
punkte ihrer Exiſtenz, zur Liebe zum Menſchen, der
Liebe zu ſich ſelbſt, zu Freunden, Eltern, Geſchwiſtern, Kindern,
und zumeiſt zur Liebe des andern Geſchlechts, und ſteigert ſich
endlich bis zur Liebe zu Gott. Nach dieſen verſchiedenen
Gegenſtänden nimmt ſie ſelbſt unendliche verſchiedene Nüancen
an, und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit
von Zuſtänden aus, welche erſchöpfend zu beſchreiben und
zu erklären gänzlich unmöglich wird. Faſſen wir daher
Das zunächſt ausſchließend und nahe ins geiſtige Auge,
was wir den wahren Mittelpunkt dieſes Gefühls, ich möchte
überhaupt ſagen, das Urgefühl nennen dürfen, und was
auch die Sprache oft ausſchließend mit dem Namen der
Liebe bezeichnet, d. h. die Liebe der Geſchlechter gegen ein¬
ander, und wir werden, eben weil dem ſo iſt, daran das
Weſen dieſes Gefühls am lebendigſten zu begreifen ver¬
mögen, ſo daß es dann leichter werden wird, über die
geringeren Zweige wie über die höchſte Blüthe deſſelben
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breiten: — Niemand wird indeß auch jenes tiefſte und innigſte

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[283/0299] wußten unſerer Seele, und hier liegt das Myſterium, das bei der Liebe tauſendfältig empfunden, von wahrhaften Dichtern in ſeiner vollen Macht begriffen und dargeſtellt, aber von den Forſchenden faſt nie mit in Erwägung ge¬ zogen worden iſt, wenn von dem Erkennen des Weſens der Liebe die Rede war. Vor Allem iſt es indeß nöthig, daß wir beachten wie verſchiedenartig der Gegenſtand der Liebe ſein könne: — Die Univerſalität und Macht dieſes Gefühls ſpricht ſich auch hierin aus, eine Univerſalität und Macht, deren das andere objective Gefühl, der Haß, niemals fähig iſt. Durch unbewußten Zug und bewußte Erkenntniß kann nämlich eben die Liebe in Wahrheit das Geringſte und hinwiederum das Höchſte umfaſſen; vom Hangen am Boden und an der Wohnſtätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen und Thieren, wendet ſie ſich, als zum eigentlichen Mittel¬ punkte ihrer Exiſtenz, zur Liebe zum Menſchen, der Liebe zu ſich ſelbſt, zu Freunden, Eltern, Geſchwiſtern, Kindern, und zumeiſt zur Liebe des andern Geſchlechts, und ſteigert ſich endlich bis zur Liebe zu Gott. Nach dieſen verſchiedenen Gegenſtänden nimmt ſie ſelbſt unendliche verſchiedene Nüancen an, und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit von Zuſtänden aus, welche erſchöpfend zu beſchreiben und zu erklären gänzlich unmöglich wird. Faſſen wir daher Das zunächſt ausſchließend und nahe ins geiſtige Auge, was wir den wahren Mittelpunkt dieſes Gefühls, ich möchte überhaupt ſagen, das Urgefühl nennen dürfen, und was auch die Sprache oft ausſchließend mit dem Namen der Liebe bezeichnet, d. h. die Liebe der Geſchlechter gegen ein¬ ander, und wir werden, eben weil dem ſo iſt, daran das Weſen dieſes Gefühls am lebendigſten zu begreifen ver¬ mögen, ſo daß es dann leichter werden wird, über die geringeren Zweige wie über die höchſte Blüthe deſſelben mit wenigen Andeutungen genügende Erkenntniß zu ver¬ breiten: — Niemand wird indeß auch jenes tiefſte und innigſte

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/299>, abgerufen am 28.03.2024.