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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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ähnlichem Maße wie die Liebe, die Kräfte steigert und ent¬
wickelt, man möchte sagen, wie er als eine Uebung des
Willens, die zu übende Gewalt des Geistes reift und kräf¬
tigt. Störend wirkt er, weil er als ein im Allgemeinen
doch der Seele Ungemäßes, gewissermaßen vergiftend auf
das eigne Seelenleben zurückschlägt, und zwar um so mehr,
je mehr er positiv wird, d. h. sich gegen Individualitäten
und Scheinbilder wendet. Hier ist es dann, wo wir den
Uebergang anknüpfen müssen zur Erwägung der krank¬
haften Abschweifungen
des Hasses.

Man könnte aber zuerst vielleicht sich verleiten lassen,
den Haß überhaupt als krankhafte Erscheinung anzusehen
und ihn gar nicht als in die Geschichte gesunder Seelen¬
entwicklung gehörig anerkennen zu wollen. Hiebei würde
man jedoch etwa eben so irrig verfahren, wie Jemand, der
gewisse Organisationsverhältnisse allemal für krankhaft
erklären wollte, weil sie es dann sind, wenn sie auf diese
Weise in reifer, völlig ausgebildeter Organisation vorkom¬
men. Das Lebergebilde, das insbesondre dem Haß ent¬
sprechende, gibt hiezu sogleich das vollständigste Beispiel;
wir finden es, je jünger der Organismus, um so größer,
und das neugeborne Kind hat noch eine Leber, welche ver¬
hältnißmäßig
zum Ganzen so viel größer ist, als im
Erwachsenen, daß man allerdings, wo ein ähnliches Ver¬
hältniß im Erwachsenen vorkommt, sie als krankhaft be¬
trachten müßte. So also auch der Haß! In frühern Ent¬
wicklungsperioden ist er unerläßlich, um von manchem Un¬
gemäßen uns zu befreien und die Kraft der Reaction zu
üben. In höherer Entwicklung soll er mehr und mehr
zurückweichen und zuhöchst in allgemeiner Liebe sich auflösen.
Krankhaft wird also der Haß dann sein, wenn theils
in frühern Perioden er noch ohne alle Regsamkeit bleibt
gegen das als schlecht, als niedrig und gemein Erkannte,
und wenn so die Seele in apathische Nichtigkeit und schläf¬
rige allgemeine Lauheit versinkt; und krankhaft wird er auch

ähnlichem Maße wie die Liebe, die Kräfte ſteigert und ent¬
wickelt, man möchte ſagen, wie er als eine Uebung des
Willens, die zu übende Gewalt des Geiſtes reift und kräf¬
tigt. Störend wirkt er, weil er als ein im Allgemeinen
doch der Seele Ungemäßes, gewiſſermaßen vergiftend auf
das eigne Seelenleben zurückſchlägt, und zwar um ſo mehr,
je mehr er poſitiv wird, d. h. ſich gegen Individualitäten
und Scheinbilder wendet. Hier iſt es dann, wo wir den
Uebergang anknüpfen müſſen zur Erwägung der krank¬
haften Abſchweifungen
des Haſſes.

Man könnte aber zuerſt vielleicht ſich verleiten laſſen,
den Haß überhaupt als krankhafte Erſcheinung anzuſehen
und ihn gar nicht als in die Geſchichte geſunder Seelen¬
entwicklung gehörig anerkennen zu wollen. Hiebei würde
man jedoch etwa eben ſo irrig verfahren, wie Jemand, der
gewiſſe Organiſationsverhältniſſe allemal für krankhaft
erklären wollte, weil ſie es dann ſind, wenn ſie auf dieſe
Weiſe in reifer, völlig ausgebildeter Organiſation vorkom¬
men. Das Lebergebilde, das insbeſondre dem Haß ent¬
ſprechende, gibt hiezu ſogleich das vollſtändigſte Beiſpiel;
wir finden es, je jünger der Organismus, um ſo größer,
und das neugeborne Kind hat noch eine Leber, welche ver¬
hältnißmäßig
zum Ganzen ſo viel größer iſt, als im
Erwachſenen, daß man allerdings, wo ein ähnliches Ver¬
hältniß im Erwachſenen vorkommt, ſie als krankhaft be¬
trachten müßte. So alſo auch der Haß! In frühern Ent¬
wicklungsperioden iſt er unerläßlich, um von manchem Un¬
gemäßen uns zu befreien und die Kraft der Reaction zu
üben. In höherer Entwicklung ſoll er mehr und mehr
zurückweichen und zuhöchſt in allgemeiner Liebe ſich auflöſen.
Krankhaft wird alſo der Haß dann ſein, wenn theils
in frühern Perioden er noch ohne alle Regſamkeit bleibt
gegen das als ſchlecht, als niedrig und gemein Erkannte,
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[323/0339] ähnlichem Maße wie die Liebe, die Kräfte ſteigert und ent¬ wickelt, man möchte ſagen, wie er als eine Uebung des Willens, die zu übende Gewalt des Geiſtes reift und kräf¬ tigt. Störend wirkt er, weil er als ein im Allgemeinen doch der Seele Ungemäßes, gewiſſermaßen vergiftend auf das eigne Seelenleben zurückſchlägt, und zwar um ſo mehr, je mehr er poſitiv wird, d. h. ſich gegen Individualitäten und Scheinbilder wendet. Hier iſt es dann, wo wir den Uebergang anknüpfen müſſen zur Erwägung der krank¬ haften Abſchweifungen des Haſſes. Man könnte aber zuerſt vielleicht ſich verleiten laſſen, den Haß überhaupt als krankhafte Erſcheinung anzuſehen und ihn gar nicht als in die Geſchichte geſunder Seelen¬ entwicklung gehörig anerkennen zu wollen. Hiebei würde man jedoch etwa eben ſo irrig verfahren, wie Jemand, der gewiſſe Organiſationsverhältniſſe allemal für krankhaft erklären wollte, weil ſie es dann ſind, wenn ſie auf dieſe Weiſe in reifer, völlig ausgebildeter Organiſation vorkom¬ men. Das Lebergebilde, das insbeſondre dem Haß ent¬ ſprechende, gibt hiezu ſogleich das vollſtändigſte Beiſpiel; wir finden es, je jünger der Organismus, um ſo größer, und das neugeborne Kind hat noch eine Leber, welche ver¬ hältnißmäßig zum Ganzen ſo viel größer iſt, als im Erwachſenen, daß man allerdings, wo ein ähnliches Ver¬ hältniß im Erwachſenen vorkommt, ſie als krankhaft be¬ trachten müßte. So alſo auch der Haß! In frühern Ent¬ wicklungsperioden iſt er unerläßlich, um von manchem Un¬ gemäßen uns zu befreien und die Kraft der Reaction zu üben. In höherer Entwicklung ſoll er mehr und mehr zurückweichen und zuhöchſt in allgemeiner Liebe ſich auflöſen. Krankhaft wird alſo der Haß dann ſein, wenn theils in frühern Perioden er noch ohne alle Regſamkeit bleibt gegen das als ſchlecht, als niedrig und gemein Erkannte, und wenn ſo die Seele in apathiſche Nichtigkeit und ſchläf¬ rige allgemeine Lauheit verſinkt; und krankhaft wird er auch

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/339>, abgerufen am 29.03.2024.