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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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Wesens zur Erscheinung noch durch ein Beispiel deutlich
machen, so möge man nur bedenken, wie der Begriff einer
mathematischen Figur, etwa eines Dreiecks, obwohl er den
Urgrund enthält von der Möglichkeit aller wirklich werden¬
den Dreiecke, doch durchaus nichts damit zu thun hat, ob
nun ein wirkliches Dreieck von Eisen, von Holz oder von
Stein sei, und eben so wenig damit, ob irgend ein Dreieck
verbogen wurde oder verdrückt sei.

Sei denn so viel gesagt im Allgemeinen über Verhält¬
niß von Gesundheit und Krankheit zum Wesen der Seele!

Wir haben nun das, was im Leben der Seele wirk¬
lich von Gesundheit und Krankheit vorkommt, im Einzelnen
zu erwägen.

a. Von der Seelengesundheit.

Auch hier wird uns sogleich die Unterscheidung des
Bewußten und des Unbewußten der Seele wichtige und
neue Resultate gewähren. Unbewußt nämlich lebt sich
die Monas unsers Daseins zuerst dar -- das Unbewußte
ist überall das Primitive, es ist die Basis, auf welcher erst
das Bewußtsein sich allmählig auferbaut, und wir sind viel¬
fach inne geworden, daß die Erscheinung bewußten Seelen¬
lebens nur dann in seiner Reinheit und Vollständigkeit ent¬
wickelt werden kann, wenn vorher eine Reinheit und Voll¬
endung der Entwicklung des Unbewußten gelungen war. --
Die erste bedeutende Folgerung, die wir sonach für den
uns hier beschäftigenden Gegenstand aus dieser Erkenntniß
ziehen dürfen, ist folgende: "Die Gesundheit des ge¬
sammten Kreises unbewußten Seelenlebens ist
die erste Bedingung der Entwicklung eines voll¬
kommen gesunden bewußten Seelenlebens
." --
Ehe wir jedoch hierin weiter gehen dürfen, ist zu fragen:
was ist unter Gesundheit des absolut unbe¬
wußten Seelenlebens zu verstehen
.

Vor allen Dingen wird hier zurückzublicken sein auf

Weſens zur Erſcheinung noch durch ein Beiſpiel deutlich
machen, ſo möge man nur bedenken, wie der Begriff einer
mathematiſchen Figur, etwa eines Dreiecks, obwohl er den
Urgrund enthält von der Möglichkeit aller wirklich werden¬
den Dreiecke, doch durchaus nichts damit zu thun hat, ob
nun ein wirkliches Dreieck von Eiſen, von Holz oder von
Stein ſei, und eben ſo wenig damit, ob irgend ein Dreieck
verbogen wurde oder verdrückt ſei.

Sei denn ſo viel geſagt im Allgemeinen über Verhält¬
niß von Geſundheit und Krankheit zum Weſen der Seele!

Wir haben nun das, was im Leben der Seele wirk¬
lich von Geſundheit und Krankheit vorkommt, im Einzelnen
zu erwägen.

α. Von der Seelengeſundheit.

Auch hier wird uns ſogleich die Unterſcheidung des
Bewußten und des Unbewußten der Seele wichtige und
neue Reſultate gewähren. Unbewußt nämlich lebt ſich
die Monas unſers Daſeins zuerſt dar — das Unbewußte
iſt überall das Primitive, es iſt die Baſis, auf welcher erſt
das Bewußtſein ſich allmählig auferbaut, und wir ſind viel¬
fach inne geworden, daß die Erſcheinung bewußten Seelen¬
lebens nur dann in ſeiner Reinheit und Vollſtändigkeit ent¬
wickelt werden kann, wenn vorher eine Reinheit und Voll¬
endung der Entwicklung des Unbewußten gelungen war. —
Die erſte bedeutende Folgerung, die wir ſonach für den
uns hier beſchäftigenden Gegenſtand aus dieſer Erkenntniß
ziehen dürfen, iſt folgende: „Die Geſundheit des ge¬
ſammten Kreiſes unbewußten Seelenlebens iſt
die erſte Bedingung der Entwicklung eines voll¬
kommen geſunden bewußten Seelenlebens
.“ —
Ehe wir jedoch hierin weiter gehen dürfen, iſt zu fragen:
was iſt unter Geſundheit des abſolut unbe¬
wußten Seelenlebens zu verſtehen
.

Vor allen Dingen wird hier zurückzublicken ſein auf

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[419/0435] Weſens zur Erſcheinung noch durch ein Beiſpiel deutlich machen, ſo möge man nur bedenken, wie der Begriff einer mathematiſchen Figur, etwa eines Dreiecks, obwohl er den Urgrund enthält von der Möglichkeit aller wirklich werden¬ den Dreiecke, doch durchaus nichts damit zu thun hat, ob nun ein wirkliches Dreieck von Eiſen, von Holz oder von Stein ſei, und eben ſo wenig damit, ob irgend ein Dreieck verbogen wurde oder verdrückt ſei. Sei denn ſo viel geſagt im Allgemeinen über Verhält¬ niß von Geſundheit und Krankheit zum Weſen der Seele! Wir haben nun das, was im Leben der Seele wirk¬ lich von Geſundheit und Krankheit vorkommt, im Einzelnen zu erwägen. α. Von der Seelengeſundheit. Auch hier wird uns ſogleich die Unterſcheidung des Bewußten und des Unbewußten der Seele wichtige und neue Reſultate gewähren. Unbewußt nämlich lebt ſich die Monas unſers Daſeins zuerſt dar — das Unbewußte iſt überall das Primitive, es iſt die Baſis, auf welcher erſt das Bewußtſein ſich allmählig auferbaut, und wir ſind viel¬ fach inne geworden, daß die Erſcheinung bewußten Seelen¬ lebens nur dann in ſeiner Reinheit und Vollſtändigkeit ent¬ wickelt werden kann, wenn vorher eine Reinheit und Voll¬ endung der Entwicklung des Unbewußten gelungen war. — Die erſte bedeutende Folgerung, die wir ſonach für den uns hier beſchäftigenden Gegenſtand aus dieſer Erkenntniß ziehen dürfen, iſt folgende: „Die Geſundheit des ge¬ ſammten Kreiſes unbewußten Seelenlebens iſt die erſte Bedingung der Entwicklung eines voll¬ kommen geſunden bewußten Seelenlebens.“ — Ehe wir jedoch hierin weiter gehen dürfen, iſt zu fragen: was iſt unter Geſundheit des abſolut unbe¬ wußten Seelenlebens zu verſtehen. Vor allen Dingen wird hier zurückzublicken ſein auf

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/435>, abgerufen am 29.03.2024.