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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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verliert, wenn die Leibesgesundheit wieder in vollkommener
Blüthe steht, ist eine sehr merkwürdige psychologische That¬
sache. Wie häufig ist es z. B. vorgekommen, daß junge
lebenskräftige Landmädchen, wenn die sogenannten Ent¬
wicklungskrankheiten sie befielen, in sonderbare idiomagne¬
tische Zustände geriethen, in welchen dann eine Feinheit
des Geistes, eine Kraft der Gedankenfolge und eine Tiefe
des Gefühls hervortraten, welche sich bald wieder verloren,
wenn diese Krankheiten vorüber waren. Eben so sieht man
Aehnliches im männlichen Geschlecht. Ein Fall, wo nach
einer Hirnverletzung mit Hirnverlust eine feinere Art der
Intelligenz und ein höherer Ausdruck der Rede vorkam, ist
mir namentlich bekannt. Auch hier verlor sich diese höhere
geistige Gesundheit so wie die Heilung der Verletzung erfolgt
war. Uebrigens fühlt ja auch Jeder, daß die massive
Gesundheit des Unbewußten in einem Athleten nicht zugleich
vorkomme mit der höhern Gesundheit des Geistes in einem
tiefdenkenden Weisen.

Wenn aber sonach das Vorhergehende eine gewisse
Erhöhung des bewußten Geistes durch Krankheit des Unbe¬
wußten erklärte, so muß dagegen ein drittes Gesetz es aus¬
sprechen, daß eine zu unvollkommene Gesundheit
des Unbewußten doch auch wieder die Gesundheit
eines höhern Bewußtseins beeinträchtigen
und
dem Organismus des Denkens, Fühlens und Wollens in
seiner Lebensbewegung nicht gestatten wird mit der Schön¬
heit, Kraft und Natürlichkeit zu erscheinen, welche er unter
Bedingung einer größern leiblichen Gesundheit wohl zu zeigen
im Stande gewesen wäre. Bei allen sehr bedeutenden
Naturen wird man daher finden, daß ein hoher Grad von
Gesundheit auch im Unbewußten, gleichsam die Stütze dar¬
bietet, damit wirklich alles das hindurchgeführt werden
könne, was eben eine solche Psyche in der Productivität
ihres reichen Daseins zur Offenbarung zu bringen hat, und
so liegt hierin abermals die Hinweisung darauf, daß es

verliert, wenn die Leibesgeſundheit wieder in vollkommener
Blüthe ſteht, iſt eine ſehr merkwürdige pſychologiſche That¬
ſache. Wie häufig iſt es z. B. vorgekommen, daß junge
lebenskräftige Landmädchen, wenn die ſogenannten Ent¬
wicklungskrankheiten ſie befielen, in ſonderbare idiomagne¬
tiſche Zuſtände geriethen, in welchen dann eine Feinheit
des Geiſtes, eine Kraft der Gedankenfolge und eine Tiefe
des Gefühls hervortraten, welche ſich bald wieder verloren,
wenn dieſe Krankheiten vorüber waren. Eben ſo ſieht man
Aehnliches im männlichen Geſchlecht. Ein Fall, wo nach
einer Hirnverletzung mit Hirnverluſt eine feinere Art der
Intelligenz und ein höherer Ausdruck der Rede vorkam, iſt
mir namentlich bekannt. Auch hier verlor ſich dieſe höhere
geiſtige Geſundheit ſo wie die Heilung der Verletzung erfolgt
war. Uebrigens fühlt ja auch Jeder, daß die maſſive
Geſundheit des Unbewußten in einem Athleten nicht zugleich
vorkomme mit der höhern Geſundheit des Geiſtes in einem
tiefdenkenden Weiſen.

Wenn aber ſonach das Vorhergehende eine gewiſſe
Erhöhung des bewußten Geiſtes durch Krankheit des Unbe¬
wußten erklärte, ſo muß dagegen ein drittes Geſetz es aus¬
ſprechen, daß eine zu unvollkommene Geſundheit
des Unbewußten doch auch wieder die Geſundheit
eines höhern Bewußtſeins beeinträchtigen
und
dem Organismus des Denkens, Fühlens und Wollens in
ſeiner Lebensbewegung nicht geſtatten wird mit der Schön¬
heit, Kraft und Natürlichkeit zu erſcheinen, welche er unter
Bedingung einer größern leiblichen Geſundheit wohl zu zeigen
im Stande geweſen wäre. Bei allen ſehr bedeutenden
Naturen wird man daher finden, daß ein hoher Grad von
Geſundheit auch im Unbewußten, gleichſam die Stütze dar¬
bietet, damit wirklich alles das hindurchgeführt werden
könne, was eben eine ſolche Pſyche in der Productivität
ihres reichen Daſeins zur Offenbarung zu bringen hat, und
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[429/0445] verliert, wenn die Leibesgeſundheit wieder in vollkommener Blüthe ſteht, iſt eine ſehr merkwürdige pſychologiſche That¬ ſache. Wie häufig iſt es z. B. vorgekommen, daß junge lebenskräftige Landmädchen, wenn die ſogenannten Ent¬ wicklungskrankheiten ſie befielen, in ſonderbare idiomagne¬ tiſche Zuſtände geriethen, in welchen dann eine Feinheit des Geiſtes, eine Kraft der Gedankenfolge und eine Tiefe des Gefühls hervortraten, welche ſich bald wieder verloren, wenn dieſe Krankheiten vorüber waren. Eben ſo ſieht man Aehnliches im männlichen Geſchlecht. Ein Fall, wo nach einer Hirnverletzung mit Hirnverluſt eine feinere Art der Intelligenz und ein höherer Ausdruck der Rede vorkam, iſt mir namentlich bekannt. Auch hier verlor ſich dieſe höhere geiſtige Geſundheit ſo wie die Heilung der Verletzung erfolgt war. Uebrigens fühlt ja auch Jeder, daß die maſſive Geſundheit des Unbewußten in einem Athleten nicht zugleich vorkomme mit der höhern Geſundheit des Geiſtes in einem tiefdenkenden Weiſen. Wenn aber ſonach das Vorhergehende eine gewiſſe Erhöhung des bewußten Geiſtes durch Krankheit des Unbe¬ wußten erklärte, ſo muß dagegen ein drittes Geſetz es aus¬ ſprechen, daß eine zu unvollkommene Geſundheit des Unbewußten doch auch wieder die Geſundheit eines höhern Bewußtſeins beeinträchtigen und dem Organismus des Denkens, Fühlens und Wollens in ſeiner Lebensbewegung nicht geſtatten wird mit der Schön¬ heit, Kraft und Natürlichkeit zu erſcheinen, welche er unter Bedingung einer größern leiblichen Geſundheit wohl zu zeigen im Stande geweſen wäre. Bei allen ſehr bedeutenden Naturen wird man daher finden, daß ein hoher Grad von Geſundheit auch im Unbewußten, gleichſam die Stütze dar¬ bietet, damit wirklich alles das hindurchgeführt werden könne, was eben eine ſolche Pſyche in der Productivität ihres reichen Daſeins zur Offenbarung zu bringen hat, und ſo liegt hierin abermals die Hinweiſung darauf, daß es

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/445>, abgerufen am 23.04.2024.