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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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einerseits und den Ideen der Welt andererseits, wächst,
lebt sich dar, vervielfältigt sich, stirbt selbst oder tödtet den
Organismus nach bestimmten sehr merkwürdigen Gesetzen
und Verhältnissen, von denen hier weiter die Rede nicht
sein kann, und welche nur in so weit hier zu besprechen
waren, als sie uns über die Krankheitserscheinungen auch
im Kreise des bewußten Seelenlebens Auskunft zu geben
im Stande sind. Der Organismus also in dessen Leben¬
kreise eine solche Krankheitsidee sich eben darlebt, ihn nennen
wir krank, seine eigene Lebensidee ist durch dieses fremd¬
artige Leben gestört, gekränkt, aber nichts desto weniger
besteht die innere Monas seines eigenthümlichen Daseins
darum eben so gewiß und sicher, als, wie wir oben bei¬
spielsweise sagten, die Idee oder der Begriff des Dreiecks
ungestört derselbe bleibt, so viel ich auch wirklich körperlich
dargestellte Dreiecke auflösen oder verbiegen mag. Alles
Kranksein trifft sonach immer nur die Erscheinung der
ursprünglichen göttlichen Idee eines gewissen Lebens, nicht
die Idee selbst
. Indeß auch an der Krankheit selbst
können wir im schärfern Denken unterscheiden ihre Grund¬
idee, ihre Monas, und die an den umgeänderten Erschei¬
nungen des Organismus hervortretenden Zeichen oder
Symptome derselben. Diese Monas der Krankheit ist
natürlich eine solche, welche, da sie nur an der Erscheinung
anderer Ideen sich darlebt, nie selbst zu einem Bewußtsein
kommen kann, sie wird stets eine unbewußte bleiben, eben
darum aber kann sie auch nur im Unbewußten un¬
sers Lebens erzeugt und geboren werden
. Unser
bewußter Geist kann ein Unbewußtes nicht erzeugen, er
erzeugt und gebiert nur Gedanken, die selbst auch wieder
nur für ein Bewußtes existiren, das Bewußtlose also
wird nur vom Unbewußten erzeugt
, und so kann
auch die in sich unbewußte Idee der Krankheit nur
aus dem Unbewußten
unsers Wesens hervorgehen. --
Diese Betrachtungen sind für alles Verständniß der Krank¬

einerſeits und den Ideen der Welt andererſeits, wächst,
lebt ſich dar, vervielfältigt ſich, ſtirbt ſelbſt oder tödtet den
Organismus nach beſtimmten ſehr merkwürdigen Geſetzen
und Verhältniſſen, von denen hier weiter die Rede nicht
ſein kann, und welche nur in ſo weit hier zu beſprechen
waren, als ſie uns über die Krankheitserſcheinungen auch
im Kreiſe des bewußten Seelenlebens Auskunft zu geben
im Stande ſind. Der Organismus alſo in deſſen Leben¬
kreiſe eine ſolche Krankheitsidee ſich eben darlebt, ihn nennen
wir krank, ſeine eigene Lebensidee iſt durch dieſes fremd¬
artige Leben geſtört, gekränkt, aber nichts deſto weniger
beſteht die innere Monas ſeines eigenthümlichen Daſeins
darum eben ſo gewiß und ſicher, als, wie wir oben bei¬
ſpielsweiſe ſagten, die Idee oder der Begriff des Dreiecks
ungeſtört derſelbe bleibt, ſo viel ich auch wirklich körperlich
dargeſtellte Dreiecke auflöſen oder verbiegen mag. Alles
Krankſein trifft ſonach immer nur die Erſcheinung der
urſprünglichen göttlichen Idee eines gewiſſen Lebens, nicht
die Idee ſelbſt
. Indeß auch an der Krankheit ſelbſt
können wir im ſchärfern Denken unterſcheiden ihre Grund¬
idee, ihre Monas, und die an den umgeänderten Erſchei¬
nungen des Organismus hervortretenden Zeichen oder
Symptome derſelben. Dieſe Monas der Krankheit iſt
natürlich eine ſolche, welche, da ſie nur an der Erſcheinung
anderer Ideen ſich darlebt, nie ſelbſt zu einem Bewußtſein
kommen kann, ſie wird ſtets eine unbewußte bleiben, eben
darum aber kann ſie auch nur im Unbewußten un¬
ſers Lebens erzeugt und geboren werden
. Unſer
bewußter Geiſt kann ein Unbewußtes nicht erzeugen, er
erzeugt und gebiert nur Gedanken, die ſelbſt auch wieder
nur für ein Bewußtes exiſtiren, das Bewußtloſe alſo
wird nur vom Unbewußten erzeugt
, und ſo kann
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[431/0447] einerſeits und den Ideen der Welt andererſeits, wächst, lebt ſich dar, vervielfältigt ſich, ſtirbt ſelbſt oder tödtet den Organismus nach beſtimmten ſehr merkwürdigen Geſetzen und Verhältniſſen, von denen hier weiter die Rede nicht ſein kann, und welche nur in ſo weit hier zu beſprechen waren, als ſie uns über die Krankheitserſcheinungen auch im Kreiſe des bewußten Seelenlebens Auskunft zu geben im Stande ſind. Der Organismus alſo in deſſen Leben¬ kreiſe eine ſolche Krankheitsidee ſich eben darlebt, ihn nennen wir krank, ſeine eigene Lebensidee iſt durch dieſes fremd¬ artige Leben geſtört, gekränkt, aber nichts deſto weniger beſteht die innere Monas ſeines eigenthümlichen Daſeins darum eben ſo gewiß und ſicher, als, wie wir oben bei¬ ſpielsweiſe ſagten, die Idee oder der Begriff des Dreiecks ungeſtört derſelbe bleibt, ſo viel ich auch wirklich körperlich dargeſtellte Dreiecke auflöſen oder verbiegen mag. Alles Krankſein trifft ſonach immer nur die Erſcheinung der urſprünglichen göttlichen Idee eines gewiſſen Lebens, nicht die Idee ſelbſt. Indeß auch an der Krankheit ſelbſt können wir im ſchärfern Denken unterſcheiden ihre Grund¬ idee, ihre Monas, und die an den umgeänderten Erſchei¬ nungen des Organismus hervortretenden Zeichen oder Symptome derſelben. Dieſe Monas der Krankheit iſt natürlich eine ſolche, welche, da ſie nur an der Erſcheinung anderer Ideen ſich darlebt, nie ſelbſt zu einem Bewußtſein kommen kann, ſie wird ſtets eine unbewußte bleiben, eben darum aber kann ſie auch nur im Unbewußten un¬ ſers Lebens erzeugt und geboren werden. Unſer bewußter Geiſt kann ein Unbewußtes nicht erzeugen, er erzeugt und gebiert nur Gedanken, die ſelbſt auch wieder nur für ein Bewußtes exiſtiren, das Bewußtloſe alſo wird nur vom Unbewußten erzeugt, und ſo kann auch die in ſich unbewußte Idee der Krankheit nur aus dem Unbewußten unſers Weſens hervorgehen. — Dieſe Betrachtungen ſind für alles Verſtändniß der Krank¬

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/447>, abgerufen am 25.04.2024.