Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Zoologie des Mittelalters.
Periode des Stillstandes bis zum zwölften Jahrhundert.

Nach dem Sturze des Römerreichs, nach dem Untergange des
von diesem eine Zeitlang noch gehaltenen, im Heidenthum wurzelnden
antiken Culturlebens und mit dem sich nur unter schweren Kämpfen
Bahn brechenden Christenthum konnte eine neue Ordnung der Dinge
sich nur langsam und allmählich herausbilden. Es wäre unnatürlich
gewesen, wenn die Menschheit den von den Alten gesammelten Schatz
des eigentlichen Naturwissens ungestört gepflegt und so verwaltet hätte,
daß eine ununterbrochene Förderung der Erkenntniß den langsamen
Neubau staatlicher und socialer Zustände begleitet hätte. Der Grund
jeder wissenschaftlichen Erhebung liegt in der allgemeinen Bildung; wo
derselbe mit dieser verloren gegangen war, konnte die Wissenschaft allein
und losgelöst keine Lebensäußerung zeigen.

Oft genug bezeichnet man die Zeit vom vierten oder fünften bis
zum dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert als die Periode des Ver-
falls der Wissenschaft. Das einmal Errungene geht aber nicht wieder
verloren; die einmal ausgesprochenen wissenschaftlichen Wahrheiten
ziehen sich zwar wohl zurück an Orte, wo ihnen die, andern Interessen
nacheilenden Völker nicht sofort folgen können; sie werden zeitweise
vergessen. Doch deshalb die Wissenschaft verfallen nennen zu wollen
wäre unrichtig. Nur die sie fördernden äußern Hülfsmittel unterliegen
in Zeiten nationaler Bedrängniß dem zersetzenden Einflusse staatlicher
Gährungen. Daß gerade bei den Naturwissenschaften die Ungunst

Die Zoologie des Mittelalters.
Periode des Stillſtandes bis zum zwölften Jahrhundert.

Nach dem Sturze des Römerreichs, nach dem Untergange des
von dieſem eine Zeitlang noch gehaltenen, im Heidenthum wurzelnden
antiken Culturlebens und mit dem ſich nur unter ſchweren Kämpfen
Bahn brechenden Chriſtenthum konnte eine neue Ordnung der Dinge
ſich nur langſam und allmählich herausbilden. Es wäre unnatürlich
geweſen, wenn die Menſchheit den von den Alten geſammelten Schatz
des eigentlichen Naturwiſſens ungeſtört gepflegt und ſo verwaltet hätte,
daß eine ununterbrochene Förderung der Erkenntniß den langſamen
Neubau ſtaatlicher und ſocialer Zuſtände begleitet hätte. Der Grund
jeder wiſſenſchaftlichen Erhebung liegt in der allgemeinen Bildung; wo
derſelbe mit dieſer verloren gegangen war, konnte die Wiſſenſchaft allein
und losgelöſt keine Lebensäußerung zeigen.

Oft genug bezeichnet man die Zeit vom vierten oder fünften bis
zum dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert als die Periode des Ver-
falls der Wiſſenſchaft. Das einmal Errungene geht aber nicht wieder
verloren; die einmal ausgeſprochenen wiſſenſchaftlichen Wahrheiten
ziehen ſich zwar wohl zurück an Orte, wo ihnen die, andern Intereſſen
nacheilenden Völker nicht ſofort folgen können; ſie werden zeitweiſe
vergeſſen. Doch deshalb die Wiſſenſchaft verfallen nennen zu wollen
wäre unrichtig. Nur die ſie fördernden äußern Hülfsmittel unterliegen
in Zeiten nationaler Bedrängniß dem zerſetzenden Einfluſſe ſtaatlicher
Gährungen. Daß gerade bei den Naturwiſſenſchaften die Ungunſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0107" n="[96]"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b">Die Zoologie des Mittelalters.</hi> </head><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Periode des Still&#x017F;tandes bis zum zwölften Jahrhundert.</hi> </head><lb/>
          <p>Nach dem Sturze des Römerreichs, nach dem Untergange des<lb/>
von die&#x017F;em eine Zeitlang noch gehaltenen, im Heidenthum wurzelnden<lb/>
antiken Culturlebens und mit dem &#x017F;ich nur unter &#x017F;chweren Kämpfen<lb/>
Bahn brechenden Chri&#x017F;tenthum konnte eine neue Ordnung der Dinge<lb/>
&#x017F;ich nur lang&#x017F;am und allmählich herausbilden. Es wäre unnatürlich<lb/>
gewe&#x017F;en, wenn die Men&#x017F;chheit den von den Alten ge&#x017F;ammelten Schatz<lb/>
des eigentlichen Naturwi&#x017F;&#x017F;ens unge&#x017F;tört gepflegt und &#x017F;o verwaltet hätte,<lb/>
daß eine ununterbrochene Förderung der Erkenntniß den lang&#x017F;amen<lb/>
Neubau &#x017F;taatlicher und &#x017F;ocialer Zu&#x017F;tände begleitet hätte. Der Grund<lb/>
jeder wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Erhebung liegt in der allgemeinen Bildung; wo<lb/>
der&#x017F;elbe mit die&#x017F;er verloren gegangen war, konnte die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft allein<lb/>
und losgelö&#x017F;t keine Lebensäußerung zeigen.</p><lb/>
          <p>Oft genug bezeichnet man die Zeit vom vierten oder fünften bis<lb/>
zum dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert als die Periode des Ver-<lb/>
falls der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Das einmal Errungene geht aber nicht wieder<lb/>
verloren; die einmal ausge&#x017F;prochenen wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Wahrheiten<lb/>
ziehen &#x017F;ich zwar wohl zurück an Orte, wo ihnen die, andern Intere&#x017F;&#x017F;en<lb/>
nacheilenden Völker nicht &#x017F;ofort folgen können; &#x017F;ie werden zeitwei&#x017F;e<lb/>
verge&#x017F;&#x017F;en. Doch deshalb die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft verfallen nennen zu wollen<lb/>
wäre unrichtig. Nur die &#x017F;ie fördernden äußern Hülfsmittel unterliegen<lb/>
in Zeiten nationaler Bedrängniß dem zer&#x017F;etzenden Einflu&#x017F;&#x017F;e &#x017F;taatlicher<lb/>
Gährungen. Daß gerade bei den Naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften die Ungun&#x017F;t<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[96]/0107] Die Zoologie des Mittelalters. Periode des Stillſtandes bis zum zwölften Jahrhundert. Nach dem Sturze des Römerreichs, nach dem Untergange des von dieſem eine Zeitlang noch gehaltenen, im Heidenthum wurzelnden antiken Culturlebens und mit dem ſich nur unter ſchweren Kämpfen Bahn brechenden Chriſtenthum konnte eine neue Ordnung der Dinge ſich nur langſam und allmählich herausbilden. Es wäre unnatürlich geweſen, wenn die Menſchheit den von den Alten geſammelten Schatz des eigentlichen Naturwiſſens ungeſtört gepflegt und ſo verwaltet hätte, daß eine ununterbrochene Förderung der Erkenntniß den langſamen Neubau ſtaatlicher und ſocialer Zuſtände begleitet hätte. Der Grund jeder wiſſenſchaftlichen Erhebung liegt in der allgemeinen Bildung; wo derſelbe mit dieſer verloren gegangen war, konnte die Wiſſenſchaft allein und losgelöſt keine Lebensäußerung zeigen. Oft genug bezeichnet man die Zeit vom vierten oder fünften bis zum dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert als die Periode des Ver- falls der Wiſſenſchaft. Das einmal Errungene geht aber nicht wieder verloren; die einmal ausgeſprochenen wiſſenſchaftlichen Wahrheiten ziehen ſich zwar wohl zurück an Orte, wo ihnen die, andern Intereſſen nacheilenden Völker nicht ſofort folgen können; ſie werden zeitweiſe vergeſſen. Doch deshalb die Wiſſenſchaft verfallen nennen zu wollen wäre unrichtig. Nur die ſie fördernden äußern Hülfsmittel unterliegen in Zeiten nationaler Bedrängniß dem zerſetzenden Einfluſſe ſtaatlicher Gährungen. Daß gerade bei den Naturwiſſenſchaften die Ungunſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/107
Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. [96]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/107>, abgerufen am 18.04.2024.