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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der encyklopädischen Darstellungen.
Zootomische und vergleichend-anatomische Leistungen.

Zum ersten Male seit den Zeiten des Alterthums führte jetzt eine
weitere Auffassung der Thiere auch zur Betrachtung ihres Baues und
zwar unabhängig von der Beschreibung ihrer äußern Erscheinung.
Wie sich aber auch die beschreibende Zoologie kaum aus dem Verhält-
nisse der Abhängigkeit von der Medicin sowohl als von einer theolo-
gisch-moralisirenden Naturbetrachtung ganz hatte frei machen können,
so stand auch die Thieranatomie noch nicht als eine selbständige Wissen-
schaft da, welche sich selbst Zweck gewesen wäre, sondern entsprang dem
medicinischen und physiologischen Bedürfniß. Damit trat auch sie in
ein Abhängigkeitsverhältniß, von welchem sie sich bis auf den heutigen
Tag noch nicht völlig frei gemacht hat.

Es ist wohl nicht ganz zu leugnen, daß einzelne Forscher auch un-
abhängig von solchen Einflüssen der Anatomie der Thiere ihre Auf-
merksamkeit zuwandten, daß selbst in einzelnen Fällen wirkliche Ver-
gleichungen angestellt wurden, welche ja dem Kreise jener andersar-
tigen Bestrebungen ihrer Natur nach fremd sind. Den hauptsäch-
lichsten Anstoß zum Eingehen auf zootomische Einzelheiten erhielten
aber nicht sowohl die Zoologen, als die fast ausnahmsweise dem ärzt-
lichen Stande angehörigen Anatomen durch den Aufschwung, welchen
die Anatomie nahm. Hier waren es nun wieder Streitigkeiten über
die Gültigkeit oder Anfechtbarkeit der classischen Autoritäten, welche
auf die Thiere führten. Man sah sich genöthigt, zur Herbeischaffung
von Zeugnissen sich nicht auf den Menschen zu beschränken. Wie in
andern Wissensgebieten für und wider Aristoteles gestritten wurde, so
galt es hier, Galen zu vertheidigen oder durch unangreifbare Belege
aus der Natur selbst zu widerlegen. Die nächste Veranlassung zum
Ausbruche des Streites gab der größte Anatom jener Zeit, der Neu-
begründer seiner Wissenschaft, Vesal. Sein Lehrer, Günther von
Andernach
(starb 87 Jahre alt 1574 in Paris) hatte sich zuerst von
der sonst kaum angetasteten Herrschaft des Mondino befreit und war
auf das zurückgegangen, was man die Hauptquelle nannte, -- nicht
auf die Natur, sondern auf Galen. Sein großer Schüler, Andreas

Periode der encyklopädiſchen Darſtellungen.
Zootomiſche und vergleichend-anatomiſche Leiſtungen.

Zum erſten Male ſeit den Zeiten des Alterthums führte jetzt eine
weitere Auffaſſung der Thiere auch zur Betrachtung ihres Baues und
zwar unabhängig von der Beſchreibung ihrer äußern Erſcheinung.
Wie ſich aber auch die beſchreibende Zoologie kaum aus dem Verhält-
niſſe der Abhängigkeit von der Medicin ſowohl als von einer theolo-
giſch-moraliſirenden Naturbetrachtung ganz hatte frei machen können,
ſo ſtand auch die Thieranatomie noch nicht als eine ſelbſtändige Wiſſen-
ſchaft da, welche ſich ſelbſt Zweck geweſen wäre, ſondern entſprang dem
mediciniſchen und phyſiologiſchen Bedürfniß. Damit trat auch ſie in
ein Abhängigkeitsverhältniß, von welchem ſie ſich bis auf den heutigen
Tag noch nicht völlig frei gemacht hat.

Es iſt wohl nicht ganz zu leugnen, daß einzelne Forſcher auch un-
abhängig von ſolchen Einflüſſen der Anatomie der Thiere ihre Auf-
merkſamkeit zuwandten, daß ſelbſt in einzelnen Fällen wirkliche Ver-
gleichungen angeſtellt wurden, welche ja dem Kreiſe jener andersar-
tigen Beſtrebungen ihrer Natur nach fremd ſind. Den hauptſäch-
lichſten Anſtoß zum Eingehen auf zootomiſche Einzelheiten erhielten
aber nicht ſowohl die Zoologen, als die faſt ausnahmsweiſe dem ärzt-
lichen Stande angehörigen Anatomen durch den Aufſchwung, welchen
die Anatomie nahm. Hier waren es nun wieder Streitigkeiten über
die Gültigkeit oder Anfechtbarkeit der claſſiſchen Autoritäten, welche
auf die Thiere führten. Man ſah ſich genöthigt, zur Herbeiſchaffung
von Zeugniſſen ſich nicht auf den Menſchen zu beſchränken. Wie in
andern Wiſſensgebieten für und wider Ariſtoteles geſtritten wurde, ſo
galt es hier, Galen zu vertheidigen oder durch unangreifbare Belege
aus der Natur ſelbſt zu widerlegen. Die nächſte Veranlaſſung zum
Ausbruche des Streites gab der größte Anatom jener Zeit, der Neu-
begründer ſeiner Wiſſenſchaft, Veſal. Sein Lehrer, Günther von
Andernach
(ſtarb 87 Jahre alt 1574 in Paris) hatte ſich zuerſt von
der ſonſt kaum angetaſteten Herrſchaft des Mondino befreit und war
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[376/0387] Periode der encyklopädiſchen Darſtellungen. Zootomiſche und vergleichend-anatomiſche Leiſtungen. Zum erſten Male ſeit den Zeiten des Alterthums führte jetzt eine weitere Auffaſſung der Thiere auch zur Betrachtung ihres Baues und zwar unabhängig von der Beſchreibung ihrer äußern Erſcheinung. Wie ſich aber auch die beſchreibende Zoologie kaum aus dem Verhält- niſſe der Abhängigkeit von der Medicin ſowohl als von einer theolo- giſch-moraliſirenden Naturbetrachtung ganz hatte frei machen können, ſo ſtand auch die Thieranatomie noch nicht als eine ſelbſtändige Wiſſen- ſchaft da, welche ſich ſelbſt Zweck geweſen wäre, ſondern entſprang dem mediciniſchen und phyſiologiſchen Bedürfniß. Damit trat auch ſie in ein Abhängigkeitsverhältniß, von welchem ſie ſich bis auf den heutigen Tag noch nicht völlig frei gemacht hat. Es iſt wohl nicht ganz zu leugnen, daß einzelne Forſcher auch un- abhängig von ſolchen Einflüſſen der Anatomie der Thiere ihre Auf- merkſamkeit zuwandten, daß ſelbſt in einzelnen Fällen wirkliche Ver- gleichungen angeſtellt wurden, welche ja dem Kreiſe jener andersar- tigen Beſtrebungen ihrer Natur nach fremd ſind. Den hauptſäch- lichſten Anſtoß zum Eingehen auf zootomiſche Einzelheiten erhielten aber nicht ſowohl die Zoologen, als die faſt ausnahmsweiſe dem ärzt- lichen Stande angehörigen Anatomen durch den Aufſchwung, welchen die Anatomie nahm. Hier waren es nun wieder Streitigkeiten über die Gültigkeit oder Anfechtbarkeit der claſſiſchen Autoritäten, welche auf die Thiere führten. Man ſah ſich genöthigt, zur Herbeiſchaffung von Zeugniſſen ſich nicht auf den Menſchen zu beſchränken. Wie in andern Wiſſensgebieten für und wider Ariſtoteles geſtritten wurde, ſo galt es hier, Galen zu vertheidigen oder durch unangreifbare Belege aus der Natur ſelbſt zu widerlegen. Die nächſte Veranlaſſung zum Ausbruche des Streites gab der größte Anatom jener Zeit, der Neu- begründer ſeiner Wiſſenſchaft, Veſal. Sein Lehrer, Günther von Andernach (ſtarb 87 Jahre alt 1574 in Paris) hatte ſich zuerſt von der ſonſt kaum angetaſteten Herrſchaft des Mondino befreit und war auf das zurückgegangen, was man die Hauptquelle nannte, — nicht auf die Natur, ſondern auf Galen. Sein großer Schüler, Andreas

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/387>, abgerufen am 25.04.2024.