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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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Periode der Morphologie.
nicht den Anstoß zu allgemeinen Anschauungen und deren erste Aus-
sprache in einer Zeit zuschreiben, wo er noch keine Zeile öffentlich be-
kannt gemacht hatte. Es wird hierdurch völlig irrelevant in historischem
Sinne, ob Goethe's Ansichten wirklich mit den unterdeß verbreiteten
übereinstimmen. Jeder Verehrer Goethe's, ja jeder Deutsche wird sich
aber freuen, daß sie dies, wie es eben in der Entwickelung der ganzen
Zeit lag, in einem gewissen Sinne thun. Die Sache hat also wohl
für die Entwickelungsgeschichte der Goethe'schen Individualität eine Be-
deutung, aber nicht für die der Wissenschaft, welche sich nur freudig
berührt finden konnte, den Liebling des deutschen Volks ihrem neuen
Zuge folgen zu sehn.

Fortbildung der vergleichenden Anatomie.

Die zootomischen Leistungen vom Ausgange der vorigen Periode
hatten unter dem Einflusse der Physiologie gestanden. Es war natür-
lich, daß so lange kein anderer leitender Gesichtspunkt aufgekommen
war, diese Richtung noch immer mehr oder weniger die herrschende
blieb. Je größer aber der Umfang des zu bewältigenden Materials
wurde, desto mehr mußte neben der meist nur erschlossenen Gleichheit
oder Ungleichheit der Function die Verschiedenheit der Bildung zum
Nachdenken veranlassen. Dies führte zur genauen Untersuchung des
örtlichen Auftretens der Organe in den einzelnen Thiergruppen, der
Lage und gegenseitigen Verbindung derselben und ihrer allmählichen
Umwandlung, also zu jenen Momenten, welche einerseits den in den
verschiedenen Gruppen ausgeführten Bauplan, andererseits noch allge-
meinere Bildungsgesetze erkennen lehrten. Beide Richtungen fanden
ihre Vertreter, anfangs meist noch unter Voranstellung der physiologi-
schen Bedeutung der Organe. -- Einer der einflußreichsten Männer in
letzterer Richtung war Karl Heinrich Kielmeyer9). Er war

9) geb. 1765 in Bebenhausen, kam 1773 auf die Karlsschule, lehrte dort 1785 für
die Schüler der Oekonomie und Forstwissenschaft Naturgeschichte, wurde 1790 Lehrer
der Zoologie und Vorsteher des Museums in Stuttgart, 1796 Professor der Chemie
und 1801 Professor der Botanik, Pharmacie und Materia medica in Tübingen,
1816 Vorstand der wissenschaftlichen Sammlungen in Stuttgart, trat 1839 von
dieser Stellung zurück und starb 1844.

Periode der Morphologie.
nicht den Anſtoß zu allgemeinen Anſchauungen und deren erſte Aus-
ſprache in einer Zeit zuſchreiben, wo er noch keine Zeile öffentlich be-
kannt gemacht hatte. Es wird hierdurch völlig irrelevant in hiſtoriſchem
Sinne, ob Goethe's Anſichten wirklich mit den unterdeß verbreiteten
übereinſtimmen. Jeder Verehrer Goethe's, ja jeder Deutſche wird ſich
aber freuen, daß ſie dies, wie es eben in der Entwickelung der ganzen
Zeit lag, in einem gewiſſen Sinne thun. Die Sache hat alſo wohl
für die Entwickelungsgeſchichte der Goethe'ſchen Individualität eine Be-
deutung, aber nicht für die der Wiſſenſchaft, welche ſich nur freudig
berührt finden konnte, den Liebling des deutſchen Volks ihrem neuen
Zuge folgen zu ſehn.

Fortbildung der vergleichenden Anatomie.

Die zootomiſchen Leiſtungen vom Ausgange der vorigen Periode
hatten unter dem Einfluſſe der Phyſiologie geſtanden. Es war natür-
lich, daß ſo lange kein anderer leitender Geſichtspunkt aufgekommen
war, dieſe Richtung noch immer mehr oder weniger die herrſchende
blieb. Je größer aber der Umfang des zu bewältigenden Materials
wurde, deſto mehr mußte neben der meiſt nur erſchloſſenen Gleichheit
oder Ungleichheit der Function die Verſchiedenheit der Bildung zum
Nachdenken veranlaſſen. Dies führte zur genauen Unterſuchung des
örtlichen Auftretens der Organe in den einzelnen Thiergruppen, der
Lage und gegenſeitigen Verbindung derſelben und ihrer allmählichen
Umwandlung, alſo zu jenen Momenten, welche einerſeits den in den
verſchiedenen Gruppen ausgeführten Bauplan, andererſeits noch allge-
meinere Bildungsgeſetze erkennen lehrten. Beide Richtungen fanden
ihre Vertreter, anfangs meiſt noch unter Voranſtellung der phyſiologi-
ſchen Bedeutung der Organe. — Einer der einflußreichſten Männer in
letzterer Richtung war Karl Heinrich Kielmeyer9). Er war

9) geb. 1765 in Bebenhauſen, kam 1773 auf die Karlsſchule, lehrte dort 1785 für
die Schüler der Oekonomie und Forſtwiſſenſchaft Naturgeſchichte, wurde 1790 Lehrer
der Zoologie und Vorſteher des Muſeums in Stuttgart, 1796 Profeſſor der Chemie
und 1801 Profeſſor der Botanik, Pharmacie und Materia medica in Tübingen,
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[592/0603] Periode der Morphologie. nicht den Anſtoß zu allgemeinen Anſchauungen und deren erſte Aus- ſprache in einer Zeit zuſchreiben, wo er noch keine Zeile öffentlich be- kannt gemacht hatte. Es wird hierdurch völlig irrelevant in hiſtoriſchem Sinne, ob Goethe's Anſichten wirklich mit den unterdeß verbreiteten übereinſtimmen. Jeder Verehrer Goethe's, ja jeder Deutſche wird ſich aber freuen, daß ſie dies, wie es eben in der Entwickelung der ganzen Zeit lag, in einem gewiſſen Sinne thun. Die Sache hat alſo wohl für die Entwickelungsgeſchichte der Goethe'ſchen Individualität eine Be- deutung, aber nicht für die der Wiſſenſchaft, welche ſich nur freudig berührt finden konnte, den Liebling des deutſchen Volks ihrem neuen Zuge folgen zu ſehn. Fortbildung der vergleichenden Anatomie. Die zootomiſchen Leiſtungen vom Ausgange der vorigen Periode hatten unter dem Einfluſſe der Phyſiologie geſtanden. Es war natür- lich, daß ſo lange kein anderer leitender Geſichtspunkt aufgekommen war, dieſe Richtung noch immer mehr oder weniger die herrſchende blieb. Je größer aber der Umfang des zu bewältigenden Materials wurde, deſto mehr mußte neben der meiſt nur erſchloſſenen Gleichheit oder Ungleichheit der Function die Verſchiedenheit der Bildung zum Nachdenken veranlaſſen. Dies führte zur genauen Unterſuchung des örtlichen Auftretens der Organe in den einzelnen Thiergruppen, der Lage und gegenſeitigen Verbindung derſelben und ihrer allmählichen Umwandlung, alſo zu jenen Momenten, welche einerſeits den in den verſchiedenen Gruppen ausgeführten Bauplan, andererſeits noch allge- meinere Bildungsgeſetze erkennen lehrten. Beide Richtungen fanden ihre Vertreter, anfangs meiſt noch unter Voranſtellung der phyſiologi- ſchen Bedeutung der Organe. — Einer der einflußreichſten Männer in letzterer Richtung war Karl Heinrich Kielmeyer 9). Er war 9) geb. 1765 in Bebenhauſen, kam 1773 auf die Karlsſchule, lehrte dort 1785 für die Schüler der Oekonomie und Forſtwiſſenſchaft Naturgeſchichte, wurde 1790 Lehrer der Zoologie und Vorſteher des Muſeums in Stuttgart, 1796 Profeſſor der Chemie und 1801 Profeſſor der Botanik, Pharmacie und Materia medica in Tübingen, 1816 Vorſtand der wiſſenſchaftlichen Sammlungen in Stuttgart, trat 1839 von dieſer Stellung zurück und ſtarb 1844.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/603>, abgerufen am 19.04.2024.