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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.
den beiden Fischen, deren Namen schon, Vorsicht und Schlauheit, die
allegorische Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel ist ein
didaktischer. Reiner hat sich die individualisirende, an die entsprechende
Charakteristik einzelner Thiere anschließende Form bei den Griechen er-
halten. Erscheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen
noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall,
welche in den Erga des Hesiod (V. 200-210) erzählt wird, so finden
sich doch hier schon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit
erscheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden
erwachsenden Thierepos werden.

Es wäre überflüssig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu
erinnern, welcher zwar nicht ausschließlich deutsch, aber doch in deut-
schen Grenzgebieten entstanden ist. Wichtig ist, daß in etwas anderer
Form einzelne Züge schon früher sprüchwörtlich verbreitet waren22),
noch wichtiger, daß durch die Verschiedenheit der Länder, in denen die
Sagen spielen, auch in die dramatis personae einige Verschiedenheit
kommt. So hat J. Grimm nachgewiesen, daß die deutsche Vorstel-
lung im zehnten Jahrhundert das Königthum über die Thiere nicht
dem Löwen, sondern dem heimischen Bären beilegte, welcher entsprechend
auch im finnischen Epos Kalevala eine hervorragende Stellung ein-
nimmt. Ferner sind in der indischen Fabel Schakale Stellvertreter des
Fuchses, wenn auch nicht mit gleich treuer Charakterzeichnung. Im
Hitopadesa wird der Esel in eine Tigerhaut gesteckt. Es gehen aber auch
in den späteren occidentalischen Thierfabeln Wolf und Fuchs häufig
durcheinander, wie ihre Namen 23). Zu bemerken ist endlich, daß nicht

22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchsige Derbheit unserer heutigen,
besonders niederdeutschen Sprüchwörter; so eins der Skolien des Alkaios (16.
Fragm.): "Geradezu muß der Freund sein und keine Schliche machen, sagte der
Krebs und packte die Schlange mit der Scheere". Andre Redensarten sind gelegent-
lich verwendbare Bruchstücke aus Fabeln gewesen; so tettiges khamothen adosin
des Stesichoros, oder tettiga d eilephas pterou des Archilochos und das poll
oid alopex desselben.
23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine
Fabel von Isegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein-
leitung, p. CCXXI, und Lemcke's Jahrb. für romanische u. engl. Literatur, 9. Bd.

3. Alter und Verbreitung der Thierfabel.
den beiden Fiſchen, deren Namen ſchon, Vorſicht und Schlauheit, die
allegoriſche Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel iſt ein
didaktiſcher. Reiner hat ſich die individualiſirende, an die entſprechende
Charakteriſtik einzelner Thiere anſchließende Form bei den Griechen er-
halten. Erſcheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen
noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall,
welche in den Erga des Heſiod (V. 200-210) erzählt wird, ſo finden
ſich doch hier ſchon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit
erſcheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden
erwachſenden Thierepos werden.

Es wäre überflüſſig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu
erinnern, welcher zwar nicht ausſchließlich deutſch, aber doch in deut-
ſchen Grenzgebieten entſtanden iſt. Wichtig iſt, daß in etwas anderer
Form einzelne Züge ſchon früher ſprüchwörtlich verbreitet waren22),
noch wichtiger, daß durch die Verſchiedenheit der Länder, in denen die
Sagen ſpielen, auch in die dramatis personae einige Verſchiedenheit
kommt. So hat J. Grimm nachgewieſen, daß die deutſche Vorſtel-
lung im zehnten Jahrhundert das Königthum über die Thiere nicht
dem Löwen, ſondern dem heimiſchen Bären beilegte, welcher entſprechend
auch im finniſchen Epos Kalevala eine hervorragende Stellung ein-
nimmt. Ferner ſind in der indiſchen Fabel Schakale Stellvertreter des
Fuchſes, wenn auch nicht mit gleich treuer Charakterzeichnung. Im
Hitopadeſa wird der Eſel in eine Tigerhaut geſteckt. Es gehen aber auch
in den ſpäteren occidentaliſchen Thierfabeln Wolf und Fuchs häufig
durcheinander, wie ihre Namen 23). Zu bemerken iſt endlich, daß nicht

22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchſige Derbheit unſerer heutigen,
beſonders niederdeutſchen Sprüchwörter; ſo eins der Skolien des Alkaios (16.
Fragm.): „Geradezu muß der Freund ſein und keine Schliche machen, ſagte der
Krebs und packte die Schlange mit der Scheere“. Andre Redensarten ſind gelegent-
lich verwendbare Bruchſtücke aus Fabeln geweſen; ſo τέττιγες χαμόθεν ᾄδωσιν
des Steſichoros, oder τέττιγα δ̕ εἴληφας πτεροῦ des Archilochos und das πόλλ̕
οἰδ̕ ἀλώπηξ deſſelben.
23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine
Fabel von Iſegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein-
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[21/0032] 3. Alter und Verbreitung der Thierfabel. den beiden Fiſchen, deren Namen ſchon, Vorſicht und Schlauheit, die allegoriſche Bedeutung verrathen; der Hauptzweck der Fabel iſt ein didaktiſcher. Reiner hat ſich die individualiſirende, an die entſprechende Charakteriſtik einzelner Thiere anſchließende Form bei den Griechen er- halten. Erſcheint auch die Wahl einzelner Thiere in früheren Fällen noch willkürlich, wie bei der Fabel vom Habicht und der Nachtigall, welche in den Erga des Heſiod (V. 200-210) erzählt wird, ſo finden ſich doch hier ſchon Thiere, welche mit ihrer ganzen Eigenthümlichkeit erſcheinen und von nun an zu Haupthelden des auf anderm Boden erwachſenden Thierepos werden. Es wäre überflüſſig, hier mehr zu thun, als an Reineke Fuchs zu erinnern, welcher zwar nicht ausſchließlich deutſch, aber doch in deut- ſchen Grenzgebieten entſtanden iſt. Wichtig iſt, daß in etwas anderer Form einzelne Züge ſchon früher ſprüchwörtlich verbreitet waren 22), noch wichtiger, daß durch die Verſchiedenheit der Länder, in denen die Sagen ſpielen, auch in die dramatis personae einige Verſchiedenheit kommt. So hat J. Grimm nachgewieſen, daß die deutſche Vorſtel- lung im zehnten Jahrhundert das Königthum über die Thiere nicht dem Löwen, ſondern dem heimiſchen Bären beilegte, welcher entſprechend auch im finniſchen Epos Kalevala eine hervorragende Stellung ein- nimmt. Ferner ſind in der indiſchen Fabel Schakale Stellvertreter des Fuchſes, wenn auch nicht mit gleich treuer Charakterzeichnung. Im Hitopadeſa wird der Eſel in eine Tigerhaut geſteckt. Es gehen aber auch in den ſpäteren occidentaliſchen Thierfabeln Wolf und Fuchs häufig durcheinander, wie ihre Namen 23). Zu bemerken iſt endlich, daß nicht 22) Manches erinnert hierbei an die naturwüchſige Derbheit unſerer heutigen, beſonders niederdeutſchen Sprüchwörter; ſo eins der Skolien des Alkaios (16. Fragm.): „Geradezu muß der Freund ſein und keine Schliche machen, ſagte der Krebs und packte die Schlange mit der Scheere“. Andre Redensarten ſind gelegent- lich verwendbare Bruchſtücke aus Fabeln geweſen; ſo τέττιγες χαμόθεν ᾄδωσιν des Steſichoros, oder τέττιγα δ̕ εἴληφας πτεροῦ des Archilochos und das πόλλ̕ οἰδ̕ ἀλώπηξ deſſelben. 23) So enthalten die Narrationes des Odo de Ciringtonia (Shirton) eine Fabel von Iſegrimms Begräbniß, nicht Reinekes (Grimm, Reinhart Fuchs, Ein- leitung, p. CCXXI, und Lemcke's Jahrb. für romaniſche u. engl. Literatur, 9. Bd.

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/32>, abgerufen am 20.04.2024.