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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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4. Schriftquellen der vorclassischen Zeit.
Südwest-Monsune auf dem indischen Meere vom April bis October
mit dem Nordost-Monsun und den Südwinden auf dem rothen Meere
vom October bis April den Verkehr der Aegypter, Hebräer, Araber
mit Indien wesentlich erleichtert und die Bekanntschaft des Westens
mit manchen Erzeugnissen Indiens schon früh ermöglicht. Aber un-
gleich wichtiger ist, daß ja erst mit der Schriftsprache die Möglichkeit
eintritt, das zu überliefern, was eigentliche Wissenschaft ausmacht:
die Verbindung der sinnlichen Erfahrung mit speculativen Denkpro-
cessen, durch welche die einzelnen mit der Beobachtung sich ergebenden
Thatsachen zu einem wohlgegliederten, der Natur dieser Thatsachen ent-
sprechende allgemeine Gesetze entwickelnden einheitlichen Ganzen ver-
bunden werden. Wenn es daher auch in einzelnen Fällen von Inter-
esse, ja für das historische Verständniß gewisser Erscheinungen geboten
sein kann, neben dem Hinweis auf das mit der Ausbreitung des Men-
schen auch reichlicher zufließende zoologische Material, auf den genaueren
Bestand an bekannten Thierformen oder auf einzelne solche näher ein-
zugehen, so kann es von nun an im Allgemeinen nicht mehr darauf
ankommen, durch Mittheilung vollständiger Verzeichnisse der von ein-
zelnen Schriftstellern erwähnten Thiere den Umfang ihrer Thierkennt-
niß zu belegen. Der Fortschritt der Zoologie hängt nicht von der Zahl
der bekannten Arten, sondern von der Auffassung der thierischen For-
men ab. Doch sind jene Verzeichnisse und die Deutungen der in ihnen
vorkommenden Thiernamen für eine Geschichte der Thiere von Werth.

Nach dem eben Gesagten wird man inmitten der an Ausdehnung
beständig zunehmenden Litteratur dort vorzüglich nach dem rothen Faden
zu suchen haben, an dem sich die Wissenschaft fortspinnt, wo unbeein-
flußt von Nebenzwecken die Erforschung der thierischen Natur selbst
zum Zwecke erhoben wird. Dies wird nur dann erst möglich, wenn
nicht bloß die allgemeine Bildung einer Nation auf Gegenstände einzu-
gehen Interesse gewinnt, welche nicht mit den täglichen Bedürfnissen
des Lebens und Treibens in directem Zusammenhange stehen, sondern
besonders, als der gesteigerte Wohlstand eines Volkes es erlaubte,
einen Theil des baaren Capitalbestandes, gewissermaßen als Ueber-
schuß, vorläufig unproductiv zu verwenden, sei es im Leben einzelner,

4. Schriftquellen der vorclaſſiſchen Zeit.
Südweſt-Monſune auf dem indiſchen Meere vom April bis October
mit dem Nordoſt-Monſun und den Südwinden auf dem rothen Meere
vom October bis April den Verkehr der Aegypter, Hebräer, Araber
mit Indien weſentlich erleichtert und die Bekanntſchaft des Weſtens
mit manchen Erzeugniſſen Indiens ſchon früh ermöglicht. Aber un-
gleich wichtiger iſt, daß ja erſt mit der Schriftſprache die Möglichkeit
eintritt, das zu überliefern, was eigentliche Wiſſenſchaft ausmacht:
die Verbindung der ſinnlichen Erfahrung mit ſpeculativen Denkpro-
ceſſen, durch welche die einzelnen mit der Beobachtung ſich ergebenden
Thatſachen zu einem wohlgegliederten, der Natur dieſer Thatſachen ent-
ſprechende allgemeine Geſetze entwickelnden einheitlichen Ganzen ver-
bunden werden. Wenn es daher auch in einzelnen Fällen von Inter-
eſſe, ja für das hiſtoriſche Verſtändniß gewiſſer Erſcheinungen geboten
ſein kann, neben dem Hinweis auf das mit der Ausbreitung des Men-
ſchen auch reichlicher zufließende zoologiſche Material, auf den genaueren
Beſtand an bekannten Thierformen oder auf einzelne ſolche näher ein-
zugehen, ſo kann es von nun an im Allgemeinen nicht mehr darauf
ankommen, durch Mittheilung vollſtändiger Verzeichniſſe der von ein-
zelnen Schriftſtellern erwähnten Thiere den Umfang ihrer Thierkennt-
niß zu belegen. Der Fortſchritt der Zoologie hängt nicht von der Zahl
der bekannten Arten, ſondern von der Auffaſſung der thieriſchen For-
men ab. Doch ſind jene Verzeichniſſe und die Deutungen der in ihnen
vorkommenden Thiernamen für eine Geſchichte der Thiere von Werth.

Nach dem eben Geſagten wird man inmitten der an Ausdehnung
beſtändig zunehmenden Litteratur dort vorzüglich nach dem rothen Faden
zu ſuchen haben, an dem ſich die Wiſſenſchaft fortſpinnt, wo unbeein-
flußt von Nebenzwecken die Erforſchung der thieriſchen Natur ſelbſt
zum Zwecke erhoben wird. Dies wird nur dann erſt möglich, wenn
nicht bloß die allgemeine Bildung einer Nation auf Gegenſtände einzu-
gehen Intereſſe gewinnt, welche nicht mit den täglichen Bedürfniſſen
des Lebens und Treibens in directem Zuſammenhange ſtehen, ſondern
beſonders, als der geſteigerte Wohlſtand eines Volkes es erlaubte,
einen Theil des baaren Capitalbeſtandes, gewiſſermaßen als Ueber-
ſchuß, vorläufig unproductiv zu verwenden, ſei es im Leben einzelner,

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[23/0034] 4. Schriftquellen der vorclaſſiſchen Zeit. Südweſt-Monſune auf dem indiſchen Meere vom April bis October mit dem Nordoſt-Monſun und den Südwinden auf dem rothen Meere vom October bis April den Verkehr der Aegypter, Hebräer, Araber mit Indien weſentlich erleichtert und die Bekanntſchaft des Weſtens mit manchen Erzeugniſſen Indiens ſchon früh ermöglicht. Aber un- gleich wichtiger iſt, daß ja erſt mit der Schriftſprache die Möglichkeit eintritt, das zu überliefern, was eigentliche Wiſſenſchaft ausmacht: die Verbindung der ſinnlichen Erfahrung mit ſpeculativen Denkpro- ceſſen, durch welche die einzelnen mit der Beobachtung ſich ergebenden Thatſachen zu einem wohlgegliederten, der Natur dieſer Thatſachen ent- ſprechende allgemeine Geſetze entwickelnden einheitlichen Ganzen ver- bunden werden. Wenn es daher auch in einzelnen Fällen von Inter- eſſe, ja für das hiſtoriſche Verſtändniß gewiſſer Erſcheinungen geboten ſein kann, neben dem Hinweis auf das mit der Ausbreitung des Men- ſchen auch reichlicher zufließende zoologiſche Material, auf den genaueren Beſtand an bekannten Thierformen oder auf einzelne ſolche näher ein- zugehen, ſo kann es von nun an im Allgemeinen nicht mehr darauf ankommen, durch Mittheilung vollſtändiger Verzeichniſſe der von ein- zelnen Schriftſtellern erwähnten Thiere den Umfang ihrer Thierkennt- niß zu belegen. Der Fortſchritt der Zoologie hängt nicht von der Zahl der bekannten Arten, ſondern von der Auffaſſung der thieriſchen For- men ab. Doch ſind jene Verzeichniſſe und die Deutungen der in ihnen vorkommenden Thiernamen für eine Geſchichte der Thiere von Werth. Nach dem eben Geſagten wird man inmitten der an Ausdehnung beſtändig zunehmenden Litteratur dort vorzüglich nach dem rothen Faden zu ſuchen haben, an dem ſich die Wiſſenſchaft fortſpinnt, wo unbeein- flußt von Nebenzwecken die Erforſchung der thieriſchen Natur ſelbſt zum Zwecke erhoben wird. Dies wird nur dann erſt möglich, wenn nicht bloß die allgemeine Bildung einer Nation auf Gegenſtände einzu- gehen Intereſſe gewinnt, welche nicht mit den täglichen Bedürfniſſen des Lebens und Treibens in directem Zuſammenhange ſtehen, ſondern beſonders, als der geſteigerte Wohlſtand eines Volkes es erlaubte, einen Theil des baaren Capitalbeſtandes, gewiſſermaßen als Ueber- ſchuß, vorläufig unproductiv zu verwenden, ſei es im Leben einzelner,

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 23. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/34>, abgerufen am 28.03.2024.