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Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872.

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3. Versuche zur Systematik.

In einer zusammenhängenden Form läßt sich nur dasjenige Sy-
stem des Alterthums übersehen, welches Aristoteles seinen Darstellun-
gen zu Grunde legte. Doch dürfte es verfehlt sein, ihn allein als den
Schöpfer eines solchen überhaupt hinzustellen. Wenn er, wie erwähnt,
den Demokrit tadelt, daß dieser die Blutlosen nur deshalb als ohne
Eingeweide erscheinend bezeichnet, weil sie zu klein wären, so geht doch
hieraus hervor, daß eben Demokrit bereits von "Blutlosen" gesprochen
haben muß. Dasselbe wird sicher auch bei manchen andern Gruppen
der Fall gewesen sein. Doch würde es auf der andern Seite ungerecht
sein, wenn man glauben wollte, Aristoteles habe nur den einen Ge-
sichtspunkt im Auge gehabt, ein etwa vorhandenes System zu ver-
bessern. Von den Versuchen Früherer, das Thierreich einzutheilen94),
ist, höchstens mit Ausnahme einzelner Ausdrücke, kein Zeichen auf die
Nachwelt gekommen. Was aber bei Aristoteles zu finden ist, spricht
entschieden dafür, daß bei ihm, welcher allein unter sämmtlichen Na-
turforschern des Alterthums ein Material übersah, welches in seiner
Ausdehnung wohl zur Ordnung auffordern konnte, neben jenem logisch-
formalen Streben auch die Ueberzeugung entwickelt war, daß das
Thierreich bestimmte in verschiedenem Grade verwandte Gruppen dar-
böte, welche zwar vielleicht mit verschiedenen andern in einzelnen Merk-
malen oberflächlich übereinstimmten, aber doch ihrem Gesammtcharakter
nach scharf und deutlich gegen andere abgegrenzt waren. Dem Um-
stande, daß in den Stellen, wo er über die Grundsätze seiner Einthei-
lung spricht, jenes formale Element sehr in den Vordergrund tritt, daß
ferner das bereits erwähnte Schwanken in dem Gebrauch der systema-
tischen Ausdrücke "Eidos" und "Genos" den Eindruck der Unsicherheit in
der Beurtheilung der einzelnen Abtheilungen hervorruft, während es
doch nur Folge davon ist, daß ihm keine Terminologie für die zu coor-
dinirenden oder zu subordinirenden Gruppen zu Gebote stand, wie

94) Ob Aristoteles derartige Versuche, nicht bloß logisch-formell, sondern fach-
gemäß angestellt, vor sich gehabt hat, ist schwer zu entscheiden. Er spricht zwar von
"oi dikhotomountes", "diairoumenoi eis duo diaphoras", "sumbainei tois diai-
roumenois to men apteron ktl"; es kann hier aber beides gemeint sein (de par-
tibus 1, 2 und 3, 642b und 643b
).
3. Verſuche zur Syſtematik.

In einer zuſammenhängenden Form läßt ſich nur dasjenige Sy-
ſtem des Alterthums überſehen, welches Ariſtoteles ſeinen Darſtellun-
gen zu Grunde legte. Doch dürfte es verfehlt ſein, ihn allein als den
Schöpfer eines ſolchen überhaupt hinzuſtellen. Wenn er, wie erwähnt,
den Demokrit tadelt, daß dieſer die Blutloſen nur deshalb als ohne
Eingeweide erſcheinend bezeichnet, weil ſie zu klein wären, ſo geht doch
hieraus hervor, daß eben Demokrit bereits von „Blutloſen“ geſprochen
haben muß. Daſſelbe wird ſicher auch bei manchen andern Gruppen
der Fall geweſen ſein. Doch würde es auf der andern Seite ungerecht
ſein, wenn man glauben wollte, Ariſtoteles habe nur den einen Ge-
ſichtspunkt im Auge gehabt, ein etwa vorhandenes Syſtem zu ver-
beſſern. Von den Verſuchen Früherer, das Thierreich einzutheilen94),
iſt, höchſtens mit Ausnahme einzelner Ausdrücke, kein Zeichen auf die
Nachwelt gekommen. Was aber bei Ariſtoteles zu finden iſt, ſpricht
entſchieden dafür, daß bei ihm, welcher allein unter ſämmtlichen Na-
turforſchern des Alterthums ein Material überſah, welches in ſeiner
Ausdehnung wohl zur Ordnung auffordern konnte, neben jenem logiſch-
formalen Streben auch die Ueberzeugung entwickelt war, daß das
Thierreich beſtimmte in verſchiedenem Grade verwandte Gruppen dar-
böte, welche zwar vielleicht mit verſchiedenen andern in einzelnen Merk-
malen oberflächlich übereinſtimmten, aber doch ihrem Geſammtcharakter
nach ſcharf und deutlich gegen andere abgegrenzt waren. Dem Um-
ſtande, daß in den Stellen, wo er über die Grundſätze ſeiner Einthei-
lung ſpricht, jenes formale Element ſehr in den Vordergrund tritt, daß
ferner das bereits erwähnte Schwanken in dem Gebrauch der ſyſtema-
tiſchen Ausdrücke „Eidos“ und „Genos“ den Eindruck der Unſicherheit in
der Beurtheilung der einzelnen Abtheilungen hervorruft, während es
doch nur Folge davon iſt, daß ihm keine Terminologie für die zu coor-
dinirenden oder zu ſubordinirenden Gruppen zu Gebote ſtand, wie

94) Ob Ariſtoteles derartige Verſuche, nicht bloß logiſch-formell, ſondern fach-
gemäß angeſtellt, vor ſich gehabt hat, iſt ſchwer zu entſcheiden. Er ſpricht zwar von
„οἱ διχοτομοῦντες“, „διαιρούμενοι εἰς δύο διαφοράς“, „συμβαίνει τοῖς διαι-
ρουμένοις τὸ μὲν ἄπτερον κτλ“; es kann hier aber beides gemeint ſein (de par-
tibus 1, 2 und 3, 642b und 643b
).
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[77/0088] 3. Verſuche zur Syſtematik. In einer zuſammenhängenden Form läßt ſich nur dasjenige Sy- ſtem des Alterthums überſehen, welches Ariſtoteles ſeinen Darſtellun- gen zu Grunde legte. Doch dürfte es verfehlt ſein, ihn allein als den Schöpfer eines ſolchen überhaupt hinzuſtellen. Wenn er, wie erwähnt, den Demokrit tadelt, daß dieſer die Blutloſen nur deshalb als ohne Eingeweide erſcheinend bezeichnet, weil ſie zu klein wären, ſo geht doch hieraus hervor, daß eben Demokrit bereits von „Blutloſen“ geſprochen haben muß. Daſſelbe wird ſicher auch bei manchen andern Gruppen der Fall geweſen ſein. Doch würde es auf der andern Seite ungerecht ſein, wenn man glauben wollte, Ariſtoteles habe nur den einen Ge- ſichtspunkt im Auge gehabt, ein etwa vorhandenes Syſtem zu ver- beſſern. Von den Verſuchen Früherer, das Thierreich einzutheilen 94), iſt, höchſtens mit Ausnahme einzelner Ausdrücke, kein Zeichen auf die Nachwelt gekommen. Was aber bei Ariſtoteles zu finden iſt, ſpricht entſchieden dafür, daß bei ihm, welcher allein unter ſämmtlichen Na- turforſchern des Alterthums ein Material überſah, welches in ſeiner Ausdehnung wohl zur Ordnung auffordern konnte, neben jenem logiſch- formalen Streben auch die Ueberzeugung entwickelt war, daß das Thierreich beſtimmte in verſchiedenem Grade verwandte Gruppen dar- böte, welche zwar vielleicht mit verſchiedenen andern in einzelnen Merk- malen oberflächlich übereinſtimmten, aber doch ihrem Geſammtcharakter nach ſcharf und deutlich gegen andere abgegrenzt waren. Dem Um- ſtande, daß in den Stellen, wo er über die Grundſätze ſeiner Einthei- lung ſpricht, jenes formale Element ſehr in den Vordergrund tritt, daß ferner das bereits erwähnte Schwanken in dem Gebrauch der ſyſtema- tiſchen Ausdrücke „Eidos“ und „Genos“ den Eindruck der Unſicherheit in der Beurtheilung der einzelnen Abtheilungen hervorruft, während es doch nur Folge davon iſt, daß ihm keine Terminologie für die zu coor- dinirenden oder zu ſubordinirenden Gruppen zu Gebote ſtand, wie 94) Ob Ariſtoteles derartige Verſuche, nicht bloß logiſch-formell, ſondern fach- gemäß angeſtellt, vor ſich gehabt hat, iſt ſchwer zu entſcheiden. Er ſpricht zwar von „οἱ διχοτομοῦντες“, „διαιρούμενοι εἰς δύο διαφοράς“, „συμβαίνει τοῖς διαι- ρουμένοις τὸ μὲν ἄπτερον κτλ“; es kann hier aber beides gemeint ſein (de par- tibus 1, 2 und 3, 642b und 643b).

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Zitationshilfe: Carus, Julius Victor: Geschichte der Zoologie bis auf Johannes Müller und Charles Darwin. München, 1872, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_zoologie_1872/88>, abgerufen am 23.04.2024.