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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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EINLEITENDES.


Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens
ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich
noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen-
probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten
Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen
Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver-
ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser
Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein,
wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und
zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis-
herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der
Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin-
durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.

Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen
verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt-
historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht
werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte
der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah
aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die
sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig
blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen
Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen
ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia,
überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und
die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo
die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner
sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade

EINLEITENDES.


Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens
ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich
noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen-
probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten
Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen
Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver-
ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser
Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein,
wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und
zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis-
herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der
Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin-
durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen.

Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen
verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt-
historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht
werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte
der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah
aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die
sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig
blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen
Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung
kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen
ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia,
überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und
die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo
die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner
sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade

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[[255]/0278] EINLEITENDES. Wer trat das Erbe des Altertums an? Diese Frage ist mindestens ebenso gewichtig wie die nach der Erbschaft selbst und womöglich noch verwickelter. Denn sie führt uns in das Studium der Rassen- probleme hinein, Probleme, welche die Wissenschaft des letzten Vierteljahrhunderts nicht gelöst, sondern im Gegenteil in ihrer vollen Unentwirrbarkeit aufgedeckt hat. Und doch hängt jedes wahre Ver- ständnis unseres Jahrhunderts von der klaren Beantwortung dieser Frage ab. Hier heisst es also zugleich kühn und vorsichtig sein, wollen wir der Mahnung meines Vorwortes eingedenk bleiben und zwischen jener Scylla einer fast unerreichbaren und in ihren bis- herigen Ergebnissen höchst problematischen Wissenschaft und der Charybdis unstatthafter, grundloser Verallgemeinerungen sicher hin- durchsteuern. Die Not zwingt uns, das Wagnis zu unternehmen. Rom hatte den Schwerpunkt der Civilisation nach Westen verlegt. Dies erwies sich als eine jener unbewusst vollzogenen welt- historischen Thaten, die durch keine Gewalt rückgängig gemacht werden können. Der von Asien abgewandte Westen Europas sollte der Herd aller ferneren Civilisation und Kultur sein. Das geschah aber nur nach und nach. Zunächst war es lediglich die Politik, die sich immer mehr nach Westen und nach Norden wandte; geistig blieb Rom selbst lange in starker Abhängigkeit vom früheren östlichen Kulturzentrum. In den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung kommt ausser Rom nur was südlich und östlich von ihm gelegen ist, in geistiger Beziehung in Betracht: Alexandria, Ephesus, Antiochia, überhaupt Syrien, dann Griechenland mit Byzanz, sowie Karthago und die übrigen Städte aus der Africa vetus, das sind die Gegenden, wo die Erbschaft angetreten und lange verwaltet wurde, deren Einwohner sie späteren Zeiten und anderen Völkern übermittelten. Und gerade

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. [255]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/278>, abgerufen am 19.03.2024.