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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
neuer Geisteskräfte, für die Klärung lebender Idiome, für die damals
doch einzig dringende Förderung nationalen Bewusstseins so viel ge-
than, wie dieser eine Fürst? Der bedeutendste neuere Historiker
Englands hat die Persönlichkeit dieses grossen Germanen in dem
einen Wort zusammengefasst: "er war ein echter Künstler".1) Von
wem aus dem Völkerchaos könnte man dasselbe sagen? In jenen
angeblich dunklen Jahrhunderten sehen wir ein um so regeres geistiges
Leben, je weiter wir nach Norden gehen, d. h. je mehr wir uns
von dem Herd der verderblichen "Bildung" entfernen, und je un-
gemischter die Rassen sind, die uns entgegentreten. Die grossartigste
Litteratur entfaltet sich -- nebst menschenwürdiger Freiheit und
Ordnung -- vom 9. bis zum 13. Jahrhundert in der fernen Republik
Island; ebenso finden wir im abseits gelegenen England im 7., 8. und
9. Jahrhundert eine Blüte echter Volkspoesie, wie seither nur selten.2)
Die leidenschaftliche Liebe zur Musik, die hier zu Tage tritt, berührt uns,
als vernähmen wir den Flügelschlag eines vom Himmel sich langsam
herabsenkenden Schutzengels, eines Engels, der künftige Zeiten ver-
kündet: hören wir König Alfred in seinem auserwählten Sängerchor
selber mitsingen, sehen wir ein Jahrhundert später den wildleiden-
schaftlichen Gelehrten und Staatsmann Dunstan niemals, weder auf dem
Pferde noch im Rate, die Harfe aus der Hand geben, dann gedenken
wir dessen, dass auch bei den Griechen Harmonia die Tochter des
Kriegsgottes Ares war. Krieg an Stelle scheinbarer Ordnung brachten
unsere rauhen Väter, zugleich aber Schöpferkraft an Stelle öder Sterilität.
Und in der That, in allen bedeutenderen Fürsten jener Zeit begegnen
wir einer eigentümlich ausgebildeten Vorstellungskraft; sie sind eben
Gestalter. Man hätte alles Recht, was Karl der Grosse an der Grenze
des 8. und 9. Jahrhunderts war und that, mit dem zu vergleichen,
was Goethe an der Grenze des 18. und 19. war und that. Beide
waren Ritter im Kampfe gegen die Mächte des Chaos, beide Ge-
stalter; beide "bekannten sich zu dem Geschlecht, das aus dem
Dunkeln ins Helle strebt".

Nein und tausendmal nein! Die Vernichtung jenes Undinges
eines unnationalen Staates, jener Form ohne Inhalt, jenes seelenlosen
Menschenhaufens, jener Vereinigung der nur durch gleiche Steuern
und gleichen Aberglauben, nicht durch gleiche Herkunft und gleichen

1) Green: History of the English People, Buch I, Kap. 3.
2) Oliver F. Emerson: History of the English Language, S. 54.

Die Erben.
neuer Geisteskräfte, für die Klärung lebender Idiome, für die damals
doch einzig dringende Förderung nationalen Bewusstseins so viel ge-
than, wie dieser eine Fürst? Der bedeutendste neuere Historiker
Englands hat die Persönlichkeit dieses grossen Germanen in dem
einen Wort zusammengefasst: »er war ein echter Künstler«.1) Von
wem aus dem Völkerchaos könnte man dasselbe sagen? In jenen
angeblich dunklen Jahrhunderten sehen wir ein um so regeres geistiges
Leben, je weiter wir nach Norden gehen, d. h. je mehr wir uns
von dem Herd der verderblichen »Bildung« entfernen, und je un-
gemischter die Rassen sind, die uns entgegentreten. Die grossartigste
Litteratur entfaltet sich — nebst menschenwürdiger Freiheit und
Ordnung — vom 9. bis zum 13. Jahrhundert in der fernen Republik
Island; ebenso finden wir im abseits gelegenen England im 7., 8. und
9. Jahrhundert eine Blüte echter Volkspoesie, wie seither nur selten.2)
Die leidenschaftliche Liebe zur Musik, die hier zu Tage tritt, berührt uns,
als vernähmen wir den Flügelschlag eines vom Himmel sich langsam
herabsenkenden Schutzengels, eines Engels, der künftige Zeiten ver-
kündet: hören wir König Alfred in seinem auserwählten Sängerchor
selber mitsingen, sehen wir ein Jahrhundert später den wildleiden-
schaftlichen Gelehrten und Staatsmann Dunstan niemals, weder auf dem
Pferde noch im Rate, die Harfe aus der Hand geben, dann gedenken
wir dessen, dass auch bei den Griechen Harmonia die Tochter des
Kriegsgottes Ares war. Krieg an Stelle scheinbarer Ordnung brachten
unsere rauhen Väter, zugleich aber Schöpferkraft an Stelle öder Sterilität.
Und in der That, in allen bedeutenderen Fürsten jener Zeit begegnen
wir einer eigentümlich ausgebildeten Vorstellungskraft; sie sind eben
Gestalter. Man hätte alles Recht, was Karl der Grosse an der Grenze
des 8. und 9. Jahrhunderts war und that, mit dem zu vergleichen,
was Goethe an der Grenze des 18. und 19. war und that. Beide
waren Ritter im Kampfe gegen die Mächte des Chaos, beide Ge-
stalter; beide »bekannten sich zu dem Geschlecht, das aus dem
Dunkeln ins Helle strebt«.

Nein und tausendmal nein! Die Vernichtung jenes Undinges
eines unnationalen Staates, jener Form ohne Inhalt, jenes seelenlosen
Menschenhaufens, jener Vereinigung der nur durch gleiche Steuern
und gleichen Aberglauben, nicht durch gleiche Herkunft und gleichen

1) Green: History of the English People, Buch I, Kap. 3.
2) Oliver F. Emerson: History of the English Language, S. 54.
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[318/0341] Die Erben. neuer Geisteskräfte, für die Klärung lebender Idiome, für die damals doch einzig dringende Förderung nationalen Bewusstseins so viel ge- than, wie dieser eine Fürst? Der bedeutendste neuere Historiker Englands hat die Persönlichkeit dieses grossen Germanen in dem einen Wort zusammengefasst: »er war ein echter Künstler«. 1) Von wem aus dem Völkerchaos könnte man dasselbe sagen? In jenen angeblich dunklen Jahrhunderten sehen wir ein um so regeres geistiges Leben, je weiter wir nach Norden gehen, d. h. je mehr wir uns von dem Herd der verderblichen »Bildung« entfernen, und je un- gemischter die Rassen sind, die uns entgegentreten. Die grossartigste Litteratur entfaltet sich — nebst menschenwürdiger Freiheit und Ordnung — vom 9. bis zum 13. Jahrhundert in der fernen Republik Island; ebenso finden wir im abseits gelegenen England im 7., 8. und 9. Jahrhundert eine Blüte echter Volkspoesie, wie seither nur selten. 2) Die leidenschaftliche Liebe zur Musik, die hier zu Tage tritt, berührt uns, als vernähmen wir den Flügelschlag eines vom Himmel sich langsam herabsenkenden Schutzengels, eines Engels, der künftige Zeiten ver- kündet: hören wir König Alfred in seinem auserwählten Sängerchor selber mitsingen, sehen wir ein Jahrhundert später den wildleiden- schaftlichen Gelehrten und Staatsmann Dunstan niemals, weder auf dem Pferde noch im Rate, die Harfe aus der Hand geben, dann gedenken wir dessen, dass auch bei den Griechen Harmonia die Tochter des Kriegsgottes Ares war. Krieg an Stelle scheinbarer Ordnung brachten unsere rauhen Väter, zugleich aber Schöpferkraft an Stelle öder Sterilität. Und in der That, in allen bedeutenderen Fürsten jener Zeit begegnen wir einer eigentümlich ausgebildeten Vorstellungskraft; sie sind eben Gestalter. Man hätte alles Recht, was Karl der Grosse an der Grenze des 8. und 9. Jahrhunderts war und that, mit dem zu vergleichen, was Goethe an der Grenze des 18. und 19. war und that. Beide waren Ritter im Kampfe gegen die Mächte des Chaos, beide Ge- stalter; beide »bekannten sich zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt«. Nein und tausendmal nein! Die Vernichtung jenes Undinges eines unnationalen Staates, jener Form ohne Inhalt, jenes seelenlosen Menschenhaufens, jener Vereinigung der nur durch gleiche Steuern und gleichen Aberglauben, nicht durch gleiche Herkunft und gleichen 1) Green: History of the English People, Buch I, Kap. 3. 2) Oliver F. Emerson: History of the English Language, S. 54.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/341>, abgerufen am 29.03.2024.