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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Vorwort.
und Zoologie mit beneidenswerter Nonchalance reden, Ärzte, deren
Ordinationsstunden in urwäldlicher Ungestörtheit verlaufen, sich die
Metaphysik zur Leichenschau vornehmen, Theologen über das Alter
von Handschriften urteilen, wo man glauben sollte, nur ein historisch
geübter Grapholog im Bunde mit einem Mikrochemiker besässe
hierzu die Kompetenz, Psychologen, die in ihrem Leben keinen
Seciersaal betraten, an die genaue Lokalisation der Gehirnfunktionen
die interessantesten Hypothesen knüpfen -- -- -- Ja, was sehen
wir bei den Berühmtesten unserer Zeit? Ein Darwin musste nolens
volens
Philosoph werden, sogar ein wenig Theolog, ein Schopen-
hauer hielt seine "Vergleichende Anatomie" für seine beste Schrift,
Hegel schrieb eine Weltgeschichte, Grimm widmete seine besten Jahre
juristischen Aufgaben, Jhering, der grosse Rechtslehrer, fühlte sich
nirgends so wohl wie beim Aufbau etymologischer und archäologischer
Luftschlösser! Kurz, die Reaktion gegen die enge Knechtschaft der
Wissenschaft bricht sich gerade bei den Gelehrten Bahn; nur die
Mittelmässigen unter ihnen halten es dauernd in der Kerkerluft
aus, die Begabten sehnen sich nach dem Leben und fühlen, dass
jegliches Wissen nur durch die Berührung mit einem andern Wissen
Gestalt und Sinn gewinnt.

Sollte nun ein aufrichtiger, offen eingestandener Dilettantismus
nicht gewisse Vorzüge vor dem versteckten haben? Wird nicht die
Situation eine hellere sein, wenn der Verfasser gleich erklärt: ich bin
auf keinem Felde ein Fachgelehrter? Ist es nicht möglich, dass eine
umfassende Ungelehrtheit einem grossen Komplex von Erscheinungen
eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich
freier bewegen wird als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv
und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte
Furchen eingegraben hat? Wenn nur nicht alle methodischen Grund-
lagen fehlen, wenn die Absicht eine edle, nützliche ist, das Ziel ein
klares, die Hand am Steuerruder eine feste, welche das Schiff zwischen
der steilen Scylla der reinen Wissenschaft (einzig den ihr Geweihten
erreichbar) und der Charybdis der Verflachung sicher hindurchzusteuern
vermag, wenn aufopferungsvoller Fleiss dem Ganzen den Stempel ehr-
licher Arbeit aufdrückt, dann darf der ungelehrte Mann ohne Scheu
eingestehen, was ihn beschränkt, und dennoch auf Anerkennung
hoffen.

Ganz ohne wissenschaftliche Schulung ist der Verfasser dieses
Buches nicht, und, hat ihn auch eine Fügung des Schicksals aus der er-

Vorwort.
und Zoologie mit beneidenswerter Nonchalance reden, Ärzte, deren
Ordinationsstunden in urwäldlicher Ungestörtheit verlaufen, sich die
Metaphysik zur Leichenschau vornehmen, Theologen über das Alter
von Handschriften urteilen, wo man glauben sollte, nur ein historisch
geübter Grapholog im Bunde mit einem Mikrochemiker besässe
hierzu die Kompetenz, Psychologen, die in ihrem Leben keinen
Seciersaal betraten, an die genaue Lokalisation der Gehirnfunktionen
die interessantesten Hypothesen knüpfen — — — Ja, was sehen
wir bei den Berühmtesten unserer Zeit? Ein Darwin musste nolens
volens
Philosoph werden, sogar ein wenig Theolog, ein Schopen-
hauer hielt seine »Vergleichende Anatomie« für seine beste Schrift,
Hegel schrieb eine Weltgeschichte, Grimm widmete seine besten Jahre
juristischen Aufgaben, Jhering, der grosse Rechtslehrer, fühlte sich
nirgends so wohl wie beim Aufbau etymologischer und archäologischer
Luftschlösser! Kurz, die Reaktion gegen die enge Knechtschaft der
Wissenschaft bricht sich gerade bei den Gelehrten Bahn; nur die
Mittelmässigen unter ihnen halten es dauernd in der Kerkerluft
aus, die Begabten sehnen sich nach dem Leben und fühlen, dass
jegliches Wissen nur durch die Berührung mit einem andern Wissen
Gestalt und Sinn gewinnt.

Sollte nun ein aufrichtiger, offen eingestandener Dilettantismus
nicht gewisse Vorzüge vor dem versteckten haben? Wird nicht die
Situation eine hellere sein, wenn der Verfasser gleich erklärt: ich bin
auf keinem Felde ein Fachgelehrter? Ist es nicht möglich, dass eine
umfassende Ungelehrtheit einem grossen Komplex von Erscheinungen
eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich
freier bewegen wird als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv
und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte
Furchen eingegraben hat? Wenn nur nicht alle methodischen Grund-
lagen fehlen, wenn die Absicht eine edle, nützliche ist, das Ziel ein
klares, die Hand am Steuerruder eine feste, welche das Schiff zwischen
der steilen Scylla der reinen Wissenschaft (einzig den ihr Geweihten
erreichbar) und der Charybdis der Verflachung sicher hindurchzusteuern
vermag, wenn aufopferungsvoller Fleiss dem Ganzen den Stempel ehr-
licher Arbeit aufdrückt, dann darf der ungelehrte Mann ohne Scheu
eingestehen, was ihn beschränkt, und dennoch auf Anerkennung
hoffen.

Ganz ohne wissenschaftliche Schulung ist der Verfasser dieses
Buches nicht, und, hat ihn auch eine Fügung des Schicksals aus der er-

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[IX/0016] Vorwort. und Zoologie mit beneidenswerter Nonchalance reden, Ärzte, deren Ordinationsstunden in urwäldlicher Ungestörtheit verlaufen, sich die Metaphysik zur Leichenschau vornehmen, Theologen über das Alter von Handschriften urteilen, wo man glauben sollte, nur ein historisch geübter Grapholog im Bunde mit einem Mikrochemiker besässe hierzu die Kompetenz, Psychologen, die in ihrem Leben keinen Seciersaal betraten, an die genaue Lokalisation der Gehirnfunktionen die interessantesten Hypothesen knüpfen — — — Ja, was sehen wir bei den Berühmtesten unserer Zeit? Ein Darwin musste nolens volens Philosoph werden, sogar ein wenig Theolog, ein Schopen- hauer hielt seine »Vergleichende Anatomie« für seine beste Schrift, Hegel schrieb eine Weltgeschichte, Grimm widmete seine besten Jahre juristischen Aufgaben, Jhering, der grosse Rechtslehrer, fühlte sich nirgends so wohl wie beim Aufbau etymologischer und archäologischer Luftschlösser! Kurz, die Reaktion gegen die enge Knechtschaft der Wissenschaft bricht sich gerade bei den Gelehrten Bahn; nur die Mittelmässigen unter ihnen halten es dauernd in der Kerkerluft aus, die Begabten sehnen sich nach dem Leben und fühlen, dass jegliches Wissen nur durch die Berührung mit einem andern Wissen Gestalt und Sinn gewinnt. Sollte nun ein aufrichtiger, offen eingestandener Dilettantismus nicht gewisse Vorzüge vor dem versteckten haben? Wird nicht die Situation eine hellere sein, wenn der Verfasser gleich erklärt: ich bin auf keinem Felde ein Fachgelehrter? Ist es nicht möglich, dass eine umfassende Ungelehrtheit einem grossen Komplex von Erscheinungen eher gerecht werden, dass sie bei der künstlerischen Gestaltung sich freier bewegen wird als eine Gelehrsamkeit, welche durch intensiv und lebenslänglich betriebenes Fachstudium dem Denken bestimmte Furchen eingegraben hat? Wenn nur nicht alle methodischen Grund- lagen fehlen, wenn die Absicht eine edle, nützliche ist, das Ziel ein klares, die Hand am Steuerruder eine feste, welche das Schiff zwischen der steilen Scylla der reinen Wissenschaft (einzig den ihr Geweihten erreichbar) und der Charybdis der Verflachung sicher hindurchzusteuern vermag, wenn aufopferungsvoller Fleiss dem Ganzen den Stempel ehr- licher Arbeit aufdrückt, dann darf der ungelehrte Mann ohne Scheu eingestehen, was ihn beschränkt, und dennoch auf Anerkennung hoffen. Ganz ohne wissenschaftliche Schulung ist der Verfasser dieses Buches nicht, und, hat ihn auch eine Fügung des Schicksals aus der er-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. IX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/16>, abgerufen am 16.04.2024.