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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.

Soviel über den allgemeinen Grundriss. Damit er aber selber
nicht so schattenhaft bleibe wie die Zukunft, muss ich jetzt einiges
Nähere über die Ausführung mitteilen. Was allerdings die be-
sonderen Ergebnisse meiner Methode anbelangt, so glaube ich sie
nicht schon hier vorweg nehmen zu sollen, da sie nur im Zusammen-
hang der ungekürzten Darlegung überzeugend wirken können.



Der
erste Band.

In diesem ersten Band musste ich also die Grundlagen auf-
zufinden suchen, auf welchen unser Jahrhundert ruht; dies dünkte
mich, wie gesagt, die schwerste und wichtigste Pflicht des ganzen
Vorhabens; darum widmete ich ihm einen vollen Band. Denn in der
Geschichte heisst Verstehen: die Gegenwart aus der Vergangenheit sich
entwickeln sehen; selbst wo wir vor einem weiter nicht zu Erklärenden
stehen, was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu ein-
tretenden Volksindividualität der Fall, sehen wir diese an Vorangegangenes
anknüpfen und finden dann selber auch nur dort den unentbehrlichen
Anknüpfungspunkt für unser Urteil. Ziehen wir eine imaginäre Grenze
zwischen unserem Jahrhundert und den vorangegangenen, so schwindet
mit einem Schlage jede Möglichkeit eines kritischen Verständnisses. Das
neunzehnte Jahrhundert ist nämlich nicht das Kind der früheren --
denn ein Kind fängt das Leben von Neuem an -- vielmehr ist es
ihr unmittelbares Erzeugnis: mathematisch betrachtet eine Summe,
physiologisch eine Altersstufe. Wir erbten eine Summe von Kennt-
nissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte
Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümer und Wahr-
heiten, Vorstellungen, Ideale, Aberglauben: manches so sehr in Fleisch
und Blut übergegangen, dass wir wähnen, es könnte nicht anders
sein, manches verkümmert, was früher viel verhiess, manches so ur-
plötzlich in die Höhe geschossen, dass es den Zusammenhang mit dem
Gesamtleben fast eingebüsst hat, und, während die Wurzeln dieser
neuen Blumen in vergessene Jahrhunderte hinunterreichen, die phan-
tastischen Blütenrispen für unerhört Neues gehalten werden. Vor
Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen
wir leben. Wer die Mahnung "Erkenne dich selbst" ernst nimmt,
wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Selbst mindestens zu
neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. Und das gilt ebenso von
dem Geist eines ganzen Jahrhunderts. Ja, der hervorragende Einzelne,
der vermag es, indem er über seine physische Stellung in der Mensch-

Allgemeine Einleitung.

Soviel über den allgemeinen Grundriss. Damit er aber selber
nicht so schattenhaft bleibe wie die Zukunft, muss ich jetzt einiges
Nähere über die Ausführung mitteilen. Was allerdings die be-
sonderen Ergebnisse meiner Methode anbelangt, so glaube ich sie
nicht schon hier vorweg nehmen zu sollen, da sie nur im Zusammen-
hang der ungekürzten Darlegung überzeugend wirken können.



Der
erste Band.

In diesem ersten Band musste ich also die Grundlagen auf-
zufinden suchen, auf welchen unser Jahrhundert ruht; dies dünkte
mich, wie gesagt, die schwerste und wichtigste Pflicht des ganzen
Vorhabens; darum widmete ich ihm einen vollen Band. Denn in der
Geschichte heisst Verstehen: die Gegenwart aus der Vergangenheit sich
entwickeln sehen; selbst wo wir vor einem weiter nicht zu Erklärenden
stehen, was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu ein-
tretenden Volksindividualität der Fall, sehen wir diese an Vorangegangenes
anknüpfen und finden dann selber auch nur dort den unentbehrlichen
Anknüpfungspunkt für unser Urteil. Ziehen wir eine imaginäre Grenze
zwischen unserem Jahrhundert und den vorangegangenen, so schwindet
mit einem Schlage jede Möglichkeit eines kritischen Verständnisses. Das
neunzehnte Jahrhundert ist nämlich nicht das Kind der früheren —
denn ein Kind fängt das Leben von Neuem an — vielmehr ist es
ihr unmittelbares Erzeugnis: mathematisch betrachtet eine Summe,
physiologisch eine Altersstufe. Wir erbten eine Summe von Kennt-
nissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte
Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümer und Wahr-
heiten, Vorstellungen, Ideale, Aberglauben: manches so sehr in Fleisch
und Blut übergegangen, dass wir wähnen, es könnte nicht anders
sein, manches verkümmert, was früher viel verhiess, manches so ur-
plötzlich in die Höhe geschossen, dass es den Zusammenhang mit dem
Gesamtleben fast eingebüsst hat, und, während die Wurzeln dieser
neuen Blumen in vergessene Jahrhunderte hinunterreichen, die phan-
tastischen Blütenrispen für unerhört Neues gehalten werden. Vor
Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen
wir leben. Wer die Mahnung »Erkenne dich selbst« ernst nimmt,
wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Selbst mindestens zu
neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. Und das gilt ebenso von
dem Geist eines ganzen Jahrhunderts. Ja, der hervorragende Einzelne,
der vermag es, indem er über seine physische Stellung in der Mensch-

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[6/0029] Allgemeine Einleitung. Soviel über den allgemeinen Grundriss. Damit er aber selber nicht so schattenhaft bleibe wie die Zukunft, muss ich jetzt einiges Nähere über die Ausführung mitteilen. Was allerdings die be- sonderen Ergebnisse meiner Methode anbelangt, so glaube ich sie nicht schon hier vorweg nehmen zu sollen, da sie nur im Zusammen- hang der ungekürzten Darlegung überzeugend wirken können. In diesem ersten Band musste ich also die Grundlagen auf- zufinden suchen, auf welchen unser Jahrhundert ruht; dies dünkte mich, wie gesagt, die schwerste und wichtigste Pflicht des ganzen Vorhabens; darum widmete ich ihm einen vollen Band. Denn in der Geschichte heisst Verstehen: die Gegenwart aus der Vergangenheit sich entwickeln sehen; selbst wo wir vor einem weiter nicht zu Erklärenden stehen, was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu ein- tretenden Volksindividualität der Fall, sehen wir diese an Vorangegangenes anknüpfen und finden dann selber auch nur dort den unentbehrlichen Anknüpfungspunkt für unser Urteil. Ziehen wir eine imaginäre Grenze zwischen unserem Jahrhundert und den vorangegangenen, so schwindet mit einem Schlage jede Möglichkeit eines kritischen Verständnisses. Das neunzehnte Jahrhundert ist nämlich nicht das Kind der früheren — denn ein Kind fängt das Leben von Neuem an — vielmehr ist es ihr unmittelbares Erzeugnis: mathematisch betrachtet eine Summe, physiologisch eine Altersstufe. Wir erbten eine Summe von Kennt- nissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümer und Wahr- heiten, Vorstellungen, Ideale, Aberglauben: manches so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass wir wähnen, es könnte nicht anders sein, manches verkümmert, was früher viel verhiess, manches so ur- plötzlich in die Höhe geschossen, dass es den Zusammenhang mit dem Gesamtleben fast eingebüsst hat, und, während die Wurzeln dieser neuen Blumen in vergessene Jahrhunderte hinunterreichen, die phan- tastischen Blütenrispen für unerhört Neues gehalten werden. Vor Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen wir leben. Wer die Mahnung »Erkenne dich selbst« ernst nimmt, wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Selbst mindestens zu neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. Und das gilt ebenso von dem Geist eines ganzen Jahrhunderts. Ja, der hervorragende Einzelne, der vermag es, indem er über seine physische Stellung in der Mensch-

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/29>, abgerufen am 29.03.2024.