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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
winnt, ein Faktor von noch tiefer eingreifender Wirksamkeit; hierin
tritt eine unverfälscht demokratische Regung zu Tage; der Glaube
und das Leben solcher Menschen verleugnen sowohl die Despotie der
Kirche wie die Despotie des Staates, und sie vernichten die Despotie
des Geldes. "Diese Bewegung", schreibt einer der genauesten Kenner
des Franz von Assisi,1) "schenkt der Menschheit die erste Vorahnung
allgemeiner Denkfreiheit." Im selben Augenblick erwuchs zum ersten-
mal im westlichen Europa eine ausgesprochene antirömische Bewegung,
die der Albigenser, zu drohender Bedeutung. Auch wurden zu gleicher
Zeit auf einem anderen Gebiete des religiösen Lebens einige ebenso
folgenschwere Schritte gethan: nachdem Peter Abälard (+ 1142),
namentlich durch seine Betonung der Bildlichkeit aller religiösen
Vorstellungen, die indoeuropäische Auffassung der Religion gegen
die semitische unbewusst verfochten hatte, machten im 13. Jahr-
hundert zwei orthodoxe Scholastiker, Thomas von Aquin und
Duns Scotus ein für das Kirchendogma ebenso gefährliches Ge-
ständnis, indem sie, sonst Gegner, beide übereinstimmend einer von
der Theologie unterschiedenen Philosophie das Recht des Daseins
einräumten. Und während hier das theoretische Denken sich zu regen
begann, legten andere Gelehrte, unter denen vor allen Albertus
Magnus
(geb. 1193) und Roger Bacon (geb. 1214) hervorragen,
die Fundamente der modernen Naturwissenschaft, indem sie die Auf-
merksamkeit der Menschen von den Vernunftstreitigkeiten hinweg
auf Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie lenkten. Auch
Dante, ebenfalls ein Kind des 13. Jahrhunderts, ist hier zu nennen,
und zwar in hervorragender Weise. "Nel mezzo del cammin di
nostra vita
", heisst der erste Vers seiner grossen Dichtung, und er
selber, das erste künstlerische Weltgenie der neuen, germanischen
Kulturepoche, ist die typische Gestalt für diesen Wendepunkt der Ge-
schichte, für den Punkt, wo sie "die Hälfte ihres Weges" zurückge-
legt, und nunmehr, nachdem sie jahrhundertelang in rasender Eile
bergab geführt hatte, sich anschickte, den steilen, schwierigen Weg
auf der gegenüberliegenden Bergwand anzutreten. Manche Anschau-
ungen Dante's in seiner Divina Commedia und in seinem Tractatus
de monarchia
muten uns an wie der sehnsuchtsvolle Blick eines viel-
erfahrenen Mannes aus dem gesellschaftlichen und politischen Chaos,
das ihn umgab, hinaus in eine harmonisch gestaltete Welt; dass dieser

1) Thode: Franz von Assisi, S. 4.

Allgemeine Einleitung.
winnt, ein Faktor von noch tiefer eingreifender Wirksamkeit; hierin
tritt eine unverfälscht demokratische Regung zu Tage; der Glaube
und das Leben solcher Menschen verleugnen sowohl die Despotie der
Kirche wie die Despotie des Staates, und sie vernichten die Despotie
des Geldes. »Diese Bewegung«, schreibt einer der genauesten Kenner
des Franz von Assisi,1) »schenkt der Menschheit die erste Vorahnung
allgemeiner Denkfreiheit.« Im selben Augenblick erwuchs zum ersten-
mal im westlichen Europa eine ausgesprochene antirömische Bewegung,
die der Albigenser, zu drohender Bedeutung. Auch wurden zu gleicher
Zeit auf einem anderen Gebiete des religiösen Lebens einige ebenso
folgenschwere Schritte gethan: nachdem Peter Abälard († 1142),
namentlich durch seine Betonung der Bildlichkeit aller religiösen
Vorstellungen, die indoeuropäische Auffassung der Religion gegen
die semitische unbewusst verfochten hatte, machten im 13. Jahr-
hundert zwei orthodoxe Scholastiker, Thomas von Aquin und
Duns Scotus ein für das Kirchendogma ebenso gefährliches Ge-
ständnis, indem sie, sonst Gegner, beide übereinstimmend einer von
der Theologie unterschiedenen Philosophie das Recht des Daseins
einräumten. Und während hier das theoretische Denken sich zu regen
begann, legten andere Gelehrte, unter denen vor allen Albertus
Magnus
(geb. 1193) und Roger Bacon (geb. 1214) hervorragen,
die Fundamente der modernen Naturwissenschaft, indem sie die Auf-
merksamkeit der Menschen von den Vernunftstreitigkeiten hinweg
auf Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie lenkten. Auch
Dante, ebenfalls ein Kind des 13. Jahrhunderts, ist hier zu nennen,
und zwar in hervorragender Weise. »Nel mezzo del cammin di
nostra vita
«, heisst der erste Vers seiner grossen Dichtung, und er
selber, das erste künstlerische Weltgenie der neuen, germanischen
Kulturepoche, ist die typische Gestalt für diesen Wendepunkt der Ge-
schichte, für den Punkt, wo sie »die Hälfte ihres Weges« zurückge-
legt, und nunmehr, nachdem sie jahrhundertelang in rasender Eile
bergab geführt hatte, sich anschickte, den steilen, schwierigen Weg
auf der gegenüberliegenden Bergwand anzutreten. Manche Anschau-
ungen Dante’s in seiner Divina Commedia und in seinem Tractatus
de monarchia
muten uns an wie der sehnsuchtsvolle Blick eines viel-
erfahrenen Mannes aus dem gesellschaftlichen und politischen Chaos,
das ihn umgab, hinaus in eine harmonisch gestaltete Welt; dass dieser

1) Thode: Franz von Assisi, S. 4.
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[13/0036] Allgemeine Einleitung. winnt, ein Faktor von noch tiefer eingreifender Wirksamkeit; hierin tritt eine unverfälscht demokratische Regung zu Tage; der Glaube und das Leben solcher Menschen verleugnen sowohl die Despotie der Kirche wie die Despotie des Staates, und sie vernichten die Despotie des Geldes. »Diese Bewegung«, schreibt einer der genauesten Kenner des Franz von Assisi, 1) »schenkt der Menschheit die erste Vorahnung allgemeiner Denkfreiheit.« Im selben Augenblick erwuchs zum ersten- mal im westlichen Europa eine ausgesprochene antirömische Bewegung, die der Albigenser, zu drohender Bedeutung. Auch wurden zu gleicher Zeit auf einem anderen Gebiete des religiösen Lebens einige ebenso folgenschwere Schritte gethan: nachdem Peter Abälard († 1142), namentlich durch seine Betonung der Bildlichkeit aller religiösen Vorstellungen, die indoeuropäische Auffassung der Religion gegen die semitische unbewusst verfochten hatte, machten im 13. Jahr- hundert zwei orthodoxe Scholastiker, Thomas von Aquin und Duns Scotus ein für das Kirchendogma ebenso gefährliches Ge- ständnis, indem sie, sonst Gegner, beide übereinstimmend einer von der Theologie unterschiedenen Philosophie das Recht des Daseins einräumten. Und während hier das theoretische Denken sich zu regen begann, legten andere Gelehrte, unter denen vor allen Albertus Magnus (geb. 1193) und Roger Bacon (geb. 1214) hervorragen, die Fundamente der modernen Naturwissenschaft, indem sie die Auf- merksamkeit der Menschen von den Vernunftstreitigkeiten hinweg auf Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie lenkten. Auch Dante, ebenfalls ein Kind des 13. Jahrhunderts, ist hier zu nennen, und zwar in hervorragender Weise. »Nel mezzo del cammin di nostra vita«, heisst der erste Vers seiner grossen Dichtung, und er selber, das erste künstlerische Weltgenie der neuen, germanischen Kulturepoche, ist die typische Gestalt für diesen Wendepunkt der Ge- schichte, für den Punkt, wo sie »die Hälfte ihres Weges« zurückge- legt, und nunmehr, nachdem sie jahrhundertelang in rasender Eile bergab geführt hatte, sich anschickte, den steilen, schwierigen Weg auf der gegenüberliegenden Bergwand anzutreten. Manche Anschau- ungen Dante’s in seiner Divina Commedia und in seinem Tractatus de monarchia muten uns an wie der sehnsuchtsvolle Blick eines viel- erfahrenen Mannes aus dem gesellschaftlichen und politischen Chaos, das ihn umgab, hinaus in eine harmonisch gestaltete Welt; dass dieser 1) Thode: Franz von Assisi, S. 4.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/36>, abgerufen am 25.04.2024.