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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
Blick gethan werden konnte, ist ein deutliches Zeichen der schon be-
gonnenen Bewegung; das Auge des Genies leuchtet den Anderen
voran.1) Doch, lange vor Dante -- das übersehe man nicht -- hatte
im Herzen des echtesten Germanentums, im Norden, eine poetische
Schöpferkraft sich kundgethan, welche allein schon beweist, wie wenig
wir einer klassischen Renaissance bedurften, um künstlerisch Unver-
gleichliches zu leisten: in dem Jahre 1200 dichteten Chrestien de
Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach,
Walther von der Vogelweide, Gottfried von Strassburg!

und ich nenne nur einige der bekanntesten Namen, denn, wie
Gottfried sagt: "der Nachtigallen sind noch viel". Und noch hatte
die bedenkliche Scheidung zwischen Dichtkunst und Tonkunst (hervor-
gegangen aus dem Kultus der toten Buchstaben) nicht stattgefunden:
der Dichter war zugleich Sänger; erfand er das "Wort", so erfand er
dazu den eigenen "Ton" und die eigene "Weise". Und so sehen
wir denn auch die Musik, die ureigenste Kunst der neuen Kultur,
zugleich mit den ersten Anzeichen des besonderen Wesens dieser
Kultur in durchaus neuer Gestalt, als vielstimmige, harmonische Kunst
entstehen. Der erste Meister von Bedeutung in der Behandlung des
Kontrapunktes ist der Dichter und Dramatiker Adam de la Halle,
geboren 1240. Mit ihm -- also mit einem echt germanischen Wort-
und Tondichter -- beginnt die Entwicklung der eigentlichen Tonkunst,
so dass der Musikgelehrte Gevaert schreiben kann: "Desormais l'on
peut considerer ce XIIIe siecle, si decrie jadis, comme le siecle
initiateur de tout l'art moderne
". Ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert
entfalteten jene begnadeten Künstler -- Nicolo Pisano, Cimabue,
Giotto
-- ihre Talente, denen wir in erster Reihe nicht allein die
"Wiedergeburt" der bildenden Künste, sondern vor allem die Geburt
einer durchaus neuen Kunst, der modernen Malerei, verdanken. Gerade
im 13. Jahrhundert kam auch die gotische Architektur auf (der "ger-

1) Ich habe hier nicht das Einzelne seiner scholastisch gefärbten Beweis
führungen im Sinne, sondern solche Dinge wie seine Betrachtungen über das
Verhältnis der Menschen zu einander (Monarchia, Buch I, Kap. 3 u. 4) oder über
die Föderation der Staaten, von denen ein jeder seine eigene Individualität, seine
eigene Gesetzgebung beibehalten, der Kaiser aber als "Friedensstifter" und als
Richter über das "allen Gemeinsame, allen Gebührende" das einigende Band her-
stellen soll (Buch I, Kap. 14). Im Übrigen ist gerade Dante, als echte "Mittel-
gestalt", sehr befangen in den Vorstellungen seiner Zeit und in dichterischen
Utopien, worüber im siebenten und namentlich in der Einleitung zum achten
Kapitel dieses Buches manches Nähere zu finden ist.

Allgemeine Einleitung.
Blick gethan werden konnte, ist ein deutliches Zeichen der schon be-
gonnenen Bewegung; das Auge des Genies leuchtet den Anderen
voran.1) Doch, lange vor Dante — das übersehe man nicht — hatte
im Herzen des echtesten Germanentums, im Norden, eine poetische
Schöpferkraft sich kundgethan, welche allein schon beweist, wie wenig
wir einer klassischen Renaissance bedurften, um künstlerisch Unver-
gleichliches zu leisten: in dem Jahre 1200 dichteten Chrestien de
Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach,
Walther von der Vogelweide, Gottfried von Strassburg!

und ich nenne nur einige der bekanntesten Namen, denn, wie
Gottfried sagt: »der Nachtigallen sind noch viel«. Und noch hatte
die bedenkliche Scheidung zwischen Dichtkunst und Tonkunst (hervor-
gegangen aus dem Kultus der toten Buchstaben) nicht stattgefunden:
der Dichter war zugleich Sänger; erfand er das »Wort«, so erfand er
dazu den eigenen »Ton« und die eigene »Weise«. Und so sehen
wir denn auch die Musik, die ureigenste Kunst der neuen Kultur,
zugleich mit den ersten Anzeichen des besonderen Wesens dieser
Kultur in durchaus neuer Gestalt, als vielstimmige, harmonische Kunst
entstehen. Der erste Meister von Bedeutung in der Behandlung des
Kontrapunktes ist der Dichter und Dramatiker Adam de la Halle,
geboren 1240. Mit ihm — also mit einem echt germanischen Wort-
und Tondichter — beginnt die Entwicklung der eigentlichen Tonkunst,
so dass der Musikgelehrte Gevaert schreiben kann: »Désormais l’on
peut considérer ce XIIIe siècle, si décrié jadis, comme le siècle
initiateur de tout l’art moderne
«. Ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert
entfalteten jene begnadeten Künstler — Nicolo Pisano, Cimabue,
Giotto
— ihre Talente, denen wir in erster Reihe nicht allein die
»Wiedergeburt« der bildenden Künste, sondern vor allem die Geburt
einer durchaus neuen Kunst, der modernen Malerei, verdanken. Gerade
im 13. Jahrhundert kam auch die gotische Architektur auf (der »ger-

1) Ich habe hier nicht das Einzelne seiner scholastisch gefärbten Beweis
führungen im Sinne, sondern solche Dinge wie seine Betrachtungen über das
Verhältnis der Menschen zu einander (Monarchia, Buch I, Kap. 3 u. 4) oder über
die Föderation der Staaten, von denen ein jeder seine eigene Individualität, seine
eigene Gesetzgebung beibehalten, der Kaiser aber als »Friedensstifter« und als
Richter über das »allen Gemeinsame, allen Gebührende« das einigende Band her-
stellen soll (Buch I, Kap. 14). Im Übrigen ist gerade Dante, als echte »Mittel-
gestalt«, sehr befangen in den Vorstellungen seiner Zeit und in dichterischen
Utopien, worüber im siebenten und namentlich in der Einleitung zum achten
Kapitel dieses Buches manches Nähere zu finden ist.
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[14/0037] Allgemeine Einleitung. Blick gethan werden konnte, ist ein deutliches Zeichen der schon be- gonnenen Bewegung; das Auge des Genies leuchtet den Anderen voran. 1) Doch, lange vor Dante — das übersehe man nicht — hatte im Herzen des echtesten Germanentums, im Norden, eine poetische Schöpferkraft sich kundgethan, welche allein schon beweist, wie wenig wir einer klassischen Renaissance bedurften, um künstlerisch Unver- gleichliches zu leisten: in dem Jahre 1200 dichteten Chrestien de Troyes, Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach, Walther von der Vogelweide, Gottfried von Strassburg! und ich nenne nur einige der bekanntesten Namen, denn, wie Gottfried sagt: »der Nachtigallen sind noch viel«. Und noch hatte die bedenkliche Scheidung zwischen Dichtkunst und Tonkunst (hervor- gegangen aus dem Kultus der toten Buchstaben) nicht stattgefunden: der Dichter war zugleich Sänger; erfand er das »Wort«, so erfand er dazu den eigenen »Ton« und die eigene »Weise«. Und so sehen wir denn auch die Musik, die ureigenste Kunst der neuen Kultur, zugleich mit den ersten Anzeichen des besonderen Wesens dieser Kultur in durchaus neuer Gestalt, als vielstimmige, harmonische Kunst entstehen. Der erste Meister von Bedeutung in der Behandlung des Kontrapunktes ist der Dichter und Dramatiker Adam de la Halle, geboren 1240. Mit ihm — also mit einem echt germanischen Wort- und Tondichter — beginnt die Entwicklung der eigentlichen Tonkunst, so dass der Musikgelehrte Gevaert schreiben kann: »Désormais l’on peut considérer ce XIIIe siècle, si décrié jadis, comme le siècle initiateur de tout l’art moderne«. Ebenfalls im dreizehnten Jahrhundert entfalteten jene begnadeten Künstler — Nicolo Pisano, Cimabue, Giotto — ihre Talente, denen wir in erster Reihe nicht allein die »Wiedergeburt« der bildenden Künste, sondern vor allem die Geburt einer durchaus neuen Kunst, der modernen Malerei, verdanken. Gerade im 13. Jahrhundert kam auch die gotische Architektur auf (der »ger- 1) Ich habe hier nicht das Einzelne seiner scholastisch gefärbten Beweis führungen im Sinne, sondern solche Dinge wie seine Betrachtungen über das Verhältnis der Menschen zu einander (Monarchia, Buch I, Kap. 3 u. 4) oder über die Föderation der Staaten, von denen ein jeder seine eigene Individualität, seine eigene Gesetzgebung beibehalten, der Kaiser aber als »Friedensstifter« und als Richter über das »allen Gemeinsame, allen Gebührende« das einigende Band her- stellen soll (Buch I, Kap. 14). Im Übrigen ist gerade Dante, als echte »Mittel- gestalt«, sehr befangen in den Vorstellungen seiner Zeit und in dichterischen Utopien, worüber im siebenten und namentlich in der Einleitung zum achten Kapitel dieses Buches manches Nähere zu finden ist.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/37>, abgerufen am 25.04.2024.