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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
über diesen Punkt klar zu werden, in den Lebensschilderungen und
in der Korrespondenz Napoleons, was er gewollt und erträumt hat,
so sehen wir, dass er nichts davon erreichte, und dass er in die un-
unterschiedliche homogene Masse zurücksank, wie Wolken nach einem
Gewitter sich auflösen, sobald die Gesamtheit sich gegen das Vor-
herrschen individuellen Wollens erhob. Dagegen hat die gründ-
liche, durch keine Gewalt der Erde rückgängig zu machende Ver-
wandlung unserer gesamten wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, der
Übergang eines bedeutenden Teiles des Vermögens der Nationen in
neue Hände, und ausserdem die durchgreifendste Umbildung des Ver-
hältnisses aller Erdteile und somit auch aller Menschen zu einander,
von der die Weltgeschichte zu erzählen weiss, im Laufe dieses Jahr-
hunderts durch eine Reihe von technischen Erfindungen auf dem
Gebiete des Schnellverkehrs und der Industrie stattgefunden, ohne
dass irgend jemand die Bedeutung dieser Neuerungen auch nur ge-
ahnt hätte. Man lese nur in Bezug hierauf die meisterliche Darlegung
im fünften Band von Treitschke's Deutscher Geschichte. Die Ent-
wertung des Grundbesitzes, die progressive Verarmung des Bauern,
der Aufschwung der Industrie, die Entstehung eines unabsehbaren
Heeres von gewerblichen Proletariern und somit auch einer neuen
Gestaltung des Sozialismus, eine tiefgreifende Umwälzung aller politischen
Verhältnisse: alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrs-
bedingungen, und alles das ist, wenn ich so sagen darf, anonym ge-
schehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise
nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. --
Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit
gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel
seine Beute, Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche be-
sondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres
Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden
vermag, ist zur Sterilität verdammt und sei er noch so begabt. So
ging es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der Entwickelungs-
theorie Darwin's. Schon im vorigen Jahrhundert dämmerte diese Idee
auf, als natürliche Reaktion gegen die alte, durch Linnäus zur formellen
Vollendung gelangte Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten.
Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken
in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas
seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge
germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes

Allgemeine Einleitung.
über diesen Punkt klar zu werden, in den Lebensschilderungen und
in der Korrespondenz Napoleons, was er gewollt und erträumt hat,
so sehen wir, dass er nichts davon erreichte, und dass er in die un-
unterschiedliche homogene Masse zurücksank, wie Wolken nach einem
Gewitter sich auflösen, sobald die Gesamtheit sich gegen das Vor-
herrschen individuellen Wollens erhob. Dagegen hat die gründ-
liche, durch keine Gewalt der Erde rückgängig zu machende Ver-
wandlung unserer gesamten wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, der
Übergang eines bedeutenden Teiles des Vermögens der Nationen in
neue Hände, und ausserdem die durchgreifendste Umbildung des Ver-
hältnisses aller Erdteile und somit auch aller Menschen zu einander,
von der die Weltgeschichte zu erzählen weiss, im Laufe dieses Jahr-
hunderts durch eine Reihe von technischen Erfindungen auf dem
Gebiete des Schnellverkehrs und der Industrie stattgefunden, ohne
dass irgend jemand die Bedeutung dieser Neuerungen auch nur ge-
ahnt hätte. Man lese nur in Bezug hierauf die meisterliche Darlegung
im fünften Band von Treitschke’s Deutscher Geschichte. Die Ent-
wertung des Grundbesitzes, die progressive Verarmung des Bauern,
der Aufschwung der Industrie, die Entstehung eines unabsehbaren
Heeres von gewerblichen Proletariern und somit auch einer neuen
Gestaltung des Sozialismus, eine tiefgreifende Umwälzung aller politischen
Verhältnisse: alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrs-
bedingungen, und alles das ist, wenn ich so sagen darf, anonym ge-
schehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise
nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. —
Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit
gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel
seine Beute, Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche be-
sondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres
Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden
vermag, ist zur Sterilität verdammt und sei er noch so begabt. So
ging es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der Entwickelungs-
theorie Darwin’s. Schon im vorigen Jahrhundert dämmerte diese Idee
auf, als natürliche Reaktion gegen die alte, durch Linnäus zur formellen
Vollendung gelangte Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten.
Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken
in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas
seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge
germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes

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[24/0047] Allgemeine Einleitung. über diesen Punkt klar zu werden, in den Lebensschilderungen und in der Korrespondenz Napoleons, was er gewollt und erträumt hat, so sehen wir, dass er nichts davon erreichte, und dass er in die un- unterschiedliche homogene Masse zurücksank, wie Wolken nach einem Gewitter sich auflösen, sobald die Gesamtheit sich gegen das Vor- herrschen individuellen Wollens erhob. Dagegen hat die gründ- liche, durch keine Gewalt der Erde rückgängig zu machende Ver- wandlung unserer gesamten wirtschaftlichen Lebensverhältnisse, der Übergang eines bedeutenden Teiles des Vermögens der Nationen in neue Hände, und ausserdem die durchgreifendste Umbildung des Ver- hältnisses aller Erdteile und somit auch aller Menschen zu einander, von der die Weltgeschichte zu erzählen weiss, im Laufe dieses Jahr- hunderts durch eine Reihe von technischen Erfindungen auf dem Gebiete des Schnellverkehrs und der Industrie stattgefunden, ohne dass irgend jemand die Bedeutung dieser Neuerungen auch nur ge- ahnt hätte. Man lese nur in Bezug hierauf die meisterliche Darlegung im fünften Band von Treitschke’s Deutscher Geschichte. Die Ent- wertung des Grundbesitzes, die progressive Verarmung des Bauern, der Aufschwung der Industrie, die Entstehung eines unabsehbaren Heeres von gewerblichen Proletariern und somit auch einer neuen Gestaltung des Sozialismus, eine tiefgreifende Umwälzung aller politischen Verhältnisse: alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrs- bedingungen, und alles das ist, wenn ich so sagen darf, anonym ge- schehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. — Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel seine Beute, Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche be- sondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden vermag, ist zur Sterilität verdammt und sei er noch so begabt. So ging es in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der Entwickelungs- theorie Darwin’s. Schon im vorigen Jahrhundert dämmerte diese Idee auf, als natürliche Reaktion gegen die alte, durch Linnäus zur formellen Vollendung gelangte Anschauung von der Unveränderlichkeit der Arten. Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/47>, abgerufen am 25.04.2024.