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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.

Wie viele Jahrhunderte werden wir uns noch mit der bewussten
Lüge herumschleppen, wir glaubten an Absurditäten als an offenbarte
Wahrheit? Ich weiss es nicht. Doch hoffe ich, es währt nicht mehr
lange. Denn das religiöse Bedürfnis schwillt zu gebieterisch an in
unserer Brust, als dass es nicht eines Tages das morsche, finstere
Gebäude zertrümmerte, und dann treten wir hinaus in das neue, helle,
herrliche, welches schon lange fertig dasteht: das wird die Krone des
germanischen Entdeckungswerkes sein!



2. Wissenschaft (von Roger Bacon bis Lavoisier).
Unsere wissen-
schaftliche
Methode.

Den Unterschied zwischen Wissenschaft und dem durch die
Entdeckung gelieferten Rohmaterial des Wissens habe ich schon oben
hervorgehoben und verweise auf das Seite 732 Gesagte; auch auf die
Grenze zwischen Wissenschaft und Philosophie machte ich aufmerk-
sam. Dass man niemals die Grenzen ohne einige Willkür wird scharf
ziehen können, thut dem Prinzip der Unterscheidung nicht den mindesten
Abbruch. Gerade die Wissenschaften, d. h. unsere neuen germanischen
wissenschaftlichen Methoden haben uns eines Besseren belehrt. Leibniz
hatte gut das sogenannte Gesetz der Kontinuität wieder aufnehmen
und bis in seine letzten Konsequenzen durchführen; der metaphysische
Beweis ist in der Praxis entbehrlich, denn auch die Erfahrung zeigt

sammenhang wäre man geneigt zu sagen, auf die "dynamische" Bedeutung) des
betreffenden Geistes und zweitens auf seine Eigenart; und da sehe ich Kant so
mächtig, dass man zum Vergleich nur Wenige aus der Weltgeschichte heranziehen
kann, und so durch und durch spezifisch germanisch (selbst auch wenn man dem Worte
einen beschränkenden Sinn beilegt), dass er typische Bedeutung gewinnt. Die philo-
sophische Technik ist hier das Nebensächliche, das Bedingte, Zufällige, Vergäng-
liche; entscheidend, unbedingt, unvergänglich ist die zu Grunde liegende Kraft,
"nicht das Gesprochene, sondern der Sprecher des Gesprochenen", wie die Upani-
shad's sich ausdrücken. -- Über Kant als Entdecker verweise ich den Leser auch
auf F. A. Lange's Geschichte des Materialismus (Ausg. 1881, S. 383), wo mit bewunderns-
wertem Scharfsinne gezeigt wird, wie es sich für Kant gar nicht darum handelte
noch handeln konnte, seine grundlegenden Sätze zu beweisen, sondern vielmehr,
sie zu entdecken. In Wahrheit ist Kant ein dem Galilei oder dem Harvey zu
vergleichender Beobachter; er geht von Thatsachen aus und "in Wirklichkeit ist
seine Methode keine andere, als die der Induktion". Die Verwirrung entsteht
dadurch, dass er sich selber über diesen Sachverhalt nicht ganz klar ist. Jeden-
falls sieht man, dass ich auch rein formell berechtigt war, den Abschnitt "Ent-
deckung" mit dem Namen Kant zu beschliessen.
Die Entstehung einer neuen Welt.

Wie viele Jahrhunderte werden wir uns noch mit der bewussten
Lüge herumschleppen, wir glaubten an Absurditäten als an offenbarte
Wahrheit? Ich weiss es nicht. Doch hoffe ich, es währt nicht mehr
lange. Denn das religiöse Bedürfnis schwillt zu gebieterisch an in
unserer Brust, als dass es nicht eines Tages das morsche, finstere
Gebäude zertrümmerte, und dann treten wir hinaus in das neue, helle,
herrliche, welches schon lange fertig dasteht: das wird die Krone des
germanischen Entdeckungswerkes sein!



2. Wissenschaft (von Roger Bacon bis Lavoisier).
Unsere wissen-
schaftliche
Methode.

Den Unterschied zwischen Wissenschaft und dem durch die
Entdeckung gelieferten Rohmaterial des Wissens habe ich schon oben
hervorgehoben und verweise auf das Seite 732 Gesagte; auch auf die
Grenze zwischen Wissenschaft und Philosophie machte ich aufmerk-
sam. Dass man niemals die Grenzen ohne einige Willkür wird scharf
ziehen können, thut dem Prinzip der Unterscheidung nicht den mindesten
Abbruch. Gerade die Wissenschaften, d. h. unsere neuen germanischen
wissenschaftlichen Methoden haben uns eines Besseren belehrt. Leibniz
hatte gut das sogenannte Gesetz der Kontinuität wieder aufnehmen
und bis in seine letzten Konsequenzen durchführen; der metaphysische
Beweis ist in der Praxis entbehrlich, denn auch die Erfahrung zeigt

sammenhang wäre man geneigt zu sagen, auf die »dynamische« Bedeutung) des
betreffenden Geistes und zweitens auf seine Eigenart; und da sehe ich Kant so
mächtig, dass man zum Vergleich nur Wenige aus der Weltgeschichte heranziehen
kann, und so durch und durch spezifisch germanisch (selbst auch wenn man dem Worte
einen beschränkenden Sinn beilegt), dass er typische Bedeutung gewinnt. Die philo-
sophische Technik ist hier das Nebensächliche, das Bedingte, Zufällige, Vergäng-
liche; entscheidend, unbedingt, unvergänglich ist die zu Grunde liegende Kraft,
»nicht das Gesprochene, sondern der Sprecher des Gesprochenen«, wie die Upani-
shad’s sich ausdrücken. — Über Kant als Entdecker verweise ich den Leser auch
auf F. A. Lange’s Geschichte des Materialismus (Ausg. 1881, S. 383), wo mit bewunderns-
wertem Scharfsinne gezeigt wird, wie es sich für Kant gar nicht darum handelte
noch handeln konnte, seine grundlegenden Sätze zu beweisen, sondern vielmehr,
sie zu entdecken. In Wahrheit ist Kant ein dem Galilei oder dem Harvey zu
vergleichender Beobachter; er geht von Thatsachen aus und »in Wirklichkeit ist
seine Methode keine andere, als die der Induktion«. Die Verwirrung entsteht
dadurch, dass er sich selber über diesen Sachverhalt nicht ganz klar ist. Jeden-
falls sieht man, dass ich auch rein formell berechtigt war, den Abschnitt »Ent-
deckung« mit dem Namen Kant zu beschliessen.
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[778/0257] Die Entstehung einer neuen Welt. Wie viele Jahrhunderte werden wir uns noch mit der bewussten Lüge herumschleppen, wir glaubten an Absurditäten als an offenbarte Wahrheit? Ich weiss es nicht. Doch hoffe ich, es währt nicht mehr lange. Denn das religiöse Bedürfnis schwillt zu gebieterisch an in unserer Brust, als dass es nicht eines Tages das morsche, finstere Gebäude zertrümmerte, und dann treten wir hinaus in das neue, helle, herrliche, welches schon lange fertig dasteht: das wird die Krone des germanischen Entdeckungswerkes sein! 2. Wissenschaft (von Roger Bacon bis Lavoisier). Den Unterschied zwischen Wissenschaft und dem durch die Entdeckung gelieferten Rohmaterial des Wissens habe ich schon oben hervorgehoben und verweise auf das Seite 732 Gesagte; auch auf die Grenze zwischen Wissenschaft und Philosophie machte ich aufmerk- sam. Dass man niemals die Grenzen ohne einige Willkür wird scharf ziehen können, thut dem Prinzip der Unterscheidung nicht den mindesten Abbruch. Gerade die Wissenschaften, d. h. unsere neuen germanischen wissenschaftlichen Methoden haben uns eines Besseren belehrt. Leibniz hatte gut das sogenannte Gesetz der Kontinuität wieder aufnehmen und bis in seine letzten Konsequenzen durchführen; der metaphysische Beweis ist in der Praxis entbehrlich, denn auch die Erfahrung zeigt 3) 3) sammenhang wäre man geneigt zu sagen, auf die »dynamische« Bedeutung) des betreffenden Geistes und zweitens auf seine Eigenart; und da sehe ich Kant so mächtig, dass man zum Vergleich nur Wenige aus der Weltgeschichte heranziehen kann, und so durch und durch spezifisch germanisch (selbst auch wenn man dem Worte einen beschränkenden Sinn beilegt), dass er typische Bedeutung gewinnt. Die philo- sophische Technik ist hier das Nebensächliche, das Bedingte, Zufällige, Vergäng- liche; entscheidend, unbedingt, unvergänglich ist die zu Grunde liegende Kraft, »nicht das Gesprochene, sondern der Sprecher des Gesprochenen«, wie die Upani- shad’s sich ausdrücken. — Über Kant als Entdecker verweise ich den Leser auch auf F. A. Lange’s Geschichte des Materialismus (Ausg. 1881, S. 383), wo mit bewunderns- wertem Scharfsinne gezeigt wird, wie es sich für Kant gar nicht darum handelte noch handeln konnte, seine grundlegenden Sätze zu beweisen, sondern vielmehr, sie zu entdecken. In Wahrheit ist Kant ein dem Galilei oder dem Harvey zu vergleichender Beobachter; er geht von Thatsachen aus und »in Wirklichkeit ist seine Methode keine andere, als die der Induktion«. Die Verwirrung entsteht dadurch, dass er sich selber über diesen Sachverhalt nicht ganz klar ist. Jeden- falls sieht man, dass ich auch rein formell berechtigt war, den Abschnitt »Ent- deckung« mit dem Namen Kant zu beschliessen.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 778. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/257>, abgerufen am 28.03.2024.