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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
lediglich darum, dasjenige deutlich hervorzuheben und zu gruppieren,
was zu einer verständnisvollen Beurteilung unseres Jahrhunderts mit
seinen widerstreitenden Strömungen, seinen einander durchquerenden
"Resultierenden", seinen leitenden Ideen unentbehrlich dünken muss.

Ursprünglich beabsichtigte ich diesen dritten und letzten Abschnitt
des ersten Teils "Die Zeit der wilden Gährung" zu nennen, musste
mir aber sagen, dass wilde Gährung viel länger als bis zum Jahre 1200
gedauert hat, ja, dass um uns herum der Most an manchen Punkten
sich noch heute ganz absurd gebärdet. Auch musste ich die geplanten
drei Kapitel aufgeben -- der Kampf im Staat, der Kampf in der
Kirche, der Kampf zwischen Staat und Kirche -- da dies mich viel
tiefer ins Historische hineingeführt hätte als mit dem Zweck meines
Werkes vereinbar war. Doch glaubte ich in diesen einleitenden
Worten jenes ersten Planes und der durch ihn bedingten Studien
erwähnen zu sollen, da dadurch die jetzige weitgehende Vereinfachung
mit der Einteilung in die zwei Kapitel "Religion" und "Staat" als
ein letztes Ergebnis erkannt und gegen etwaige Bedenken geschützt
wird. Zugleich wird begreiflich, inwiefern die Idee des Kampfes
meine Darstellung beherrscht.

Die Anarchie.

Goethe bezeichnet einmal das Mittelalter als einen Konflikt zwischen
Gewalten, welche teils eine bedeutende Selbständigkeit bereits besassen,
teils sie zu erringen strebten, und nennt das Ganze eine "aristokratische
Anarchie."1) Für den Ausdruck "aristokratisch" möchte ich nicht
einstehen, denn er impliziert stets -- auch wenn als Geistesaristokratie
aufgefasst -- Rechte der Geburt; wogegen jene mächtige Gewalt,
die Kirche, jedes angeborene Recht leugnet: selbst die von einem
ganzen Volke anerkannte Erbfolge verleiht einem Monarchen die
Legitimität nicht, wenn nicht die Kirche sie aus freien Stücken be-
stätigt; das war (und ist noch heute) die kirchenrechtliche Theorie
Roms, und die Geschichte bietet uns zahlreiche Beispiele davon, dass
Päpste Nationen von ihrem Treueeid entbunden und zur Empörung
gegen ihren rechtmässigen König aufgefordert haben. In ihrer eigenen
Mitte anerkennt die Kirche keinerlei individuelle Rechte; weder Geburts-
noch Geistesadel besitzen für sie Bedeutung. Und kann man sie auch
gewiss nicht eine demokratische Gewalt nennen, so darf man sie
noch weniger als eine aristokratische auffassen; jede Logokratie war
ihrem tiefsten Wesen nach stets anti-aristokratisch und zugleich anti-

1) Annalen, 1794.

Der Kampf.
lediglich darum, dasjenige deutlich hervorzuheben und zu gruppieren,
was zu einer verständnisvollen Beurteilung unseres Jahrhunderts mit
seinen widerstreitenden Strömungen, seinen einander durchquerenden
»Resultierenden«, seinen leitenden Ideen unentbehrlich dünken muss.

Ursprünglich beabsichtigte ich diesen dritten und letzten Abschnitt
des ersten Teils »Die Zeit der wilden Gährung« zu nennen, musste
mir aber sagen, dass wilde Gährung viel länger als bis zum Jahre 1200
gedauert hat, ja, dass um uns herum der Most an manchen Punkten
sich noch heute ganz absurd gebärdet. Auch musste ich die geplanten
drei Kapitel aufgeben — der Kampf im Staat, der Kampf in der
Kirche, der Kampf zwischen Staat und Kirche — da dies mich viel
tiefer ins Historische hineingeführt hätte als mit dem Zweck meines
Werkes vereinbar war. Doch glaubte ich in diesen einleitenden
Worten jenes ersten Planes und der durch ihn bedingten Studien
erwähnen zu sollen, da dadurch die jetzige weitgehende Vereinfachung
mit der Einteilung in die zwei Kapitel »Religion« und »Staat« als
ein letztes Ergebnis erkannt und gegen etwaige Bedenken geschützt
wird. Zugleich wird begreiflich, inwiefern die Idee des Kampfes
meine Darstellung beherrscht.

Die Anarchie.

Goethe bezeichnet einmal das Mittelalter als einen Konflikt zwischen
Gewalten, welche teils eine bedeutende Selbständigkeit bereits besassen,
teils sie zu erringen strebten, und nennt das Ganze eine »aristokratische
Anarchie.«1) Für den Ausdruck »aristokratisch« möchte ich nicht
einstehen, denn er impliziert stets — auch wenn als Geistesaristokratie
aufgefasst — Rechte der Geburt; wogegen jene mächtige Gewalt,
die Kirche, jedes angeborene Recht leugnet: selbst die von einem
ganzen Volke anerkannte Erbfolge verleiht einem Monarchen die
Legitimität nicht, wenn nicht die Kirche sie aus freien Stücken be-
stätigt; das war (und ist noch heute) die kirchenrechtliche Theorie
Roms, und die Geschichte bietet uns zahlreiche Beispiele davon, dass
Päpste Nationen von ihrem Treueeid entbunden und zur Empörung
gegen ihren rechtmässigen König aufgefordert haben. In ihrer eigenen
Mitte anerkennt die Kirche keinerlei individuelle Rechte; weder Geburts-
noch Geistesadel besitzen für sie Bedeutung. Und kann man sie auch
gewiss nicht eine demokratische Gewalt nennen, so darf man sie
noch weniger als eine aristokratische auffassen; jede Logokratie war
ihrem tiefsten Wesen nach stets anti-aristokratisch und zugleich anti-

1) Annalen, 1794.
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[536/0015] Der Kampf. lediglich darum, dasjenige deutlich hervorzuheben und zu gruppieren, was zu einer verständnisvollen Beurteilung unseres Jahrhunderts mit seinen widerstreitenden Strömungen, seinen einander durchquerenden »Resultierenden«, seinen leitenden Ideen unentbehrlich dünken muss. Ursprünglich beabsichtigte ich diesen dritten und letzten Abschnitt des ersten Teils »Die Zeit der wilden Gährung« zu nennen, musste mir aber sagen, dass wilde Gährung viel länger als bis zum Jahre 1200 gedauert hat, ja, dass um uns herum der Most an manchen Punkten sich noch heute ganz absurd gebärdet. Auch musste ich die geplanten drei Kapitel aufgeben — der Kampf im Staat, der Kampf in der Kirche, der Kampf zwischen Staat und Kirche — da dies mich viel tiefer ins Historische hineingeführt hätte als mit dem Zweck meines Werkes vereinbar war. Doch glaubte ich in diesen einleitenden Worten jenes ersten Planes und der durch ihn bedingten Studien erwähnen zu sollen, da dadurch die jetzige weitgehende Vereinfachung mit der Einteilung in die zwei Kapitel »Religion« und »Staat« als ein letztes Ergebnis erkannt und gegen etwaige Bedenken geschützt wird. Zugleich wird begreiflich, inwiefern die Idee des Kampfes meine Darstellung beherrscht. Goethe bezeichnet einmal das Mittelalter als einen Konflikt zwischen Gewalten, welche teils eine bedeutende Selbständigkeit bereits besassen, teils sie zu erringen strebten, und nennt das Ganze eine »aristokratische Anarchie.« 1) Für den Ausdruck »aristokratisch« möchte ich nicht einstehen, denn er impliziert stets — auch wenn als Geistesaristokratie aufgefasst — Rechte der Geburt; wogegen jene mächtige Gewalt, die Kirche, jedes angeborene Recht leugnet: selbst die von einem ganzen Volke anerkannte Erbfolge verleiht einem Monarchen die Legitimität nicht, wenn nicht die Kirche sie aus freien Stücken be- stätigt; das war (und ist noch heute) die kirchenrechtliche Theorie Roms, und die Geschichte bietet uns zahlreiche Beispiele davon, dass Päpste Nationen von ihrem Treueeid entbunden und zur Empörung gegen ihren rechtmässigen König aufgefordert haben. In ihrer eigenen Mitte anerkennt die Kirche keinerlei individuelle Rechte; weder Geburts- noch Geistesadel besitzen für sie Bedeutung. Und kann man sie auch gewiss nicht eine demokratische Gewalt nennen, so darf man sie noch weniger als eine aristokratische auffassen; jede Logokratie war ihrem tiefsten Wesen nach stets anti-aristokratisch und zugleich anti- 1) Annalen, 1794.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/15>, abgerufen am 28.03.2024.