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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
oder aber, dass sie ein Volk nach und nach völlig zu Grunde richten
kann, indem sie die Entwickelung seiner Fähigkeiten hemmt und die
Ausbildung seiner bedenklichsten Anlagen begünstigt. Das erkannt zu
haben, bezeugt die überragende Grösse Luther's und erklärt seine Be-
deutung für die politische Gestaltung der Welt. "Das römische Reich
zu brechen und eine neue Welt zu ordnen," betrachtete Goethe als
die erste historische Hauptaufgabe der Deutschen;1) ohne die Witten-
berger Nachtigall wäre ihre Durchführung schwerlich gelungen. Wahr-
lich, wenn Diejenigen, die sich zu Luther's Politik bekennen (und
gleichviel, was sie über seine Theologie denken), heute die Weltkarte
betrachten, haben sie allen Grund, mit ihm zu singen:

Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
Lass fahren dahin,
Sie habens kein Gewinn;
Das Reich muss uns doch bleiben!


6. Weltanschauung und Religion (von Franz von Assisi
bis zu Immanuel Kant).
Die zwei Wege.

Eine Definition von Weltanschauung habe ich schon oben (S. 736 fg.)
gegeben, und über Religion habe ich mich in diesem Buche häufig aus-
gesprochen;2) auch auf die untrennbare Zusammengehörigkeit der beiden
Begriffe machte ich S. 738 aufmerksam. Ich verfechte keineswegs die
Identität von Weltanschauung mit Religion, denn das wäre ein rein
logisch-formalistisches Unternehmen, welches mir durchaus ferne liegt,
ich sehe aber in unserer Geschichte die philosophische Spekulation
überall in der Religion fussen und in ihrer vollen Entwickelung
wiederum auf Religion hinzielen, und wenn ich einerseits die Volks-
individualitäten sinnend betrachte, andererseits hervorragende Männer
an meinem Auge vorbeiziehen lasse, so entdecke ich eine ganze Reihe
von Beziehungen zwischen Weltanschauung und Religion, welche sie
mir als innig organisch verbunden zeigen: wo die eine fehlt, fehlt
die andere, wo die eine kräftig blüht, blüht die andere; ein tiefreli-
giöser Mann ist ein wahrer Philosoph (im lebendigen, volksmässigen

1) November 1813, Gespräch mit Luden.
2) Siehe namentlich S. 220 fg., 391 fg., 441.

Die Entstehung einer neuen Welt.
oder aber, dass sie ein Volk nach und nach völlig zu Grunde richten
kann, indem sie die Entwickelung seiner Fähigkeiten hemmt und die
Ausbildung seiner bedenklichsten Anlagen begünstigt. Das erkannt zu
haben, bezeugt die überragende Grösse Luther’s und erklärt seine Be-
deutung für die politische Gestaltung der Welt. »Das römische Reich
zu brechen und eine neue Welt zu ordnen,« betrachtete Goethe als
die erste historische Hauptaufgabe der Deutschen;1) ohne die Witten-
berger Nachtigall wäre ihre Durchführung schwerlich gelungen. Wahr-
lich, wenn Diejenigen, die sich zu Luther’s Politik bekennen (und
gleichviel, was sie über seine Theologie denken), heute die Weltkarte
betrachten, haben sie allen Grund, mit ihm zu singen:

Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
Lass fahren dahin,
Sie habens kein Gewinn;
Das Reich muss uns doch bleiben!


6. Weltanschauung und Religion (von Franz von Assisi
bis zu Immanuel Kant).
Die zwei Wege.

Eine Definition von Weltanschauung habe ich schon oben (S. 736 fg.)
gegeben, und über Religion habe ich mich in diesem Buche häufig aus-
gesprochen;2) auch auf die untrennbare Zusammengehörigkeit der beiden
Begriffe machte ich S. 738 aufmerksam. Ich verfechte keineswegs die
Identität von Weltanschauung mit Religion, denn das wäre ein rein
logisch-formalistisches Unternehmen, welches mir durchaus ferne liegt,
ich sehe aber in unserer Geschichte die philosophische Spekulation
überall in der Religion fussen und in ihrer vollen Entwickelung
wiederum auf Religion hinzielen, und wenn ich einerseits die Volks-
individualitäten sinnend betrachte, andererseits hervorragende Männer
an meinem Auge vorbeiziehen lasse, so entdecke ich eine ganze Reihe
von Beziehungen zwischen Weltanschauung und Religion, welche sie
mir als innig organisch verbunden zeigen: wo die eine fehlt, fehlt
die andere, wo die eine kräftig blüht, blüht die andere; ein tiefreli-
giöser Mann ist ein wahrer Philosoph (im lebendigen, volksmässigen

1) November 1813, Gespräch mit Luden.
2) Siehe namentlich S. 220 fg., 391 fg., 441.
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[858/0337] Die Entstehung einer neuen Welt. oder aber, dass sie ein Volk nach und nach völlig zu Grunde richten kann, indem sie die Entwickelung seiner Fähigkeiten hemmt und die Ausbildung seiner bedenklichsten Anlagen begünstigt. Das erkannt zu haben, bezeugt die überragende Grösse Luther’s und erklärt seine Be- deutung für die politische Gestaltung der Welt. »Das römische Reich zu brechen und eine neue Welt zu ordnen,« betrachtete Goethe als die erste historische Hauptaufgabe der Deutschen; 1) ohne die Witten- berger Nachtigall wäre ihre Durchführung schwerlich gelungen. Wahr- lich, wenn Diejenigen, die sich zu Luther’s Politik bekennen (und gleichviel, was sie über seine Theologie denken), heute die Weltkarte betrachten, haben sie allen Grund, mit ihm zu singen: Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: Lass fahren dahin, Sie habens kein Gewinn; Das Reich muss uns doch bleiben! 6. Weltanschauung und Religion (von Franz von Assisi bis zu Immanuel Kant). Eine Definition von Weltanschauung habe ich schon oben (S. 736 fg.) gegeben, und über Religion habe ich mich in diesem Buche häufig aus- gesprochen; 2) auch auf die untrennbare Zusammengehörigkeit der beiden Begriffe machte ich S. 738 aufmerksam. Ich verfechte keineswegs die Identität von Weltanschauung mit Religion, denn das wäre ein rein logisch-formalistisches Unternehmen, welches mir durchaus ferne liegt, ich sehe aber in unserer Geschichte die philosophische Spekulation überall in der Religion fussen und in ihrer vollen Entwickelung wiederum auf Religion hinzielen, und wenn ich einerseits die Volks- individualitäten sinnend betrachte, andererseits hervorragende Männer an meinem Auge vorbeiziehen lasse, so entdecke ich eine ganze Reihe von Beziehungen zwischen Weltanschauung und Religion, welche sie mir als innig organisch verbunden zeigen: wo die eine fehlt, fehlt die andere, wo die eine kräftig blüht, blüht die andere; ein tiefreli- giöser Mann ist ein wahrer Philosoph (im lebendigen, volksmässigen 1) November 1813, Gespräch mit Luden. 2) Siehe namentlich S. 220 fg., 391 fg., 441.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 858. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/337>, abgerufen am 28.03.2024.