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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
Gnade, auf das Gespräch Christi mit Nikodemus verweisen, in welchem
das Wort "Wiedergeburt" ebenso sinnlos wäre, wie in der Genesis
die Erzählung von der Entartung der ersten Menschen durch den
Genuss eines Apfels, handelte es sich nicht dort wie hier lediglich um
die Sichtbarmachung eines zwar durchaus wirklichen, gegenwärtigen,
doch unsichtbaren und darum dem Verstande zunächst unfassbaren Vor-
ganges. Und bezüglich des Sündenfalles verweise ich ihn auf Luther,
welcher schreibt: "Die Erbsünde ist der Fall der ganzen Natur"; und
an anderer Stelle: "Es ist ja die Erde unschuldig und trüge viel lieber
das Beste; sie wird aber verhindert durch den Fluch, so über den
Menschen um der Sünde willen gegangen ist." Hier wird ja, wie
man sieht, Wesensverwandtschaft zwischen dem Menschen in seinem
innersten Thun und der ganzen umgebenden Natur postuliert: das
ist indoeuropäische mythische Religion in ihrer vollen Entfaltung
(siehe S. 221 u. 392), welche -- nebenbei gesagt -- sobald sie in der
Vorstellungsweise der Vernunft sich kundthut (wie z. B. bei Schopen-
hauer), indoeuropäische metaphysische Erkenntnis bildet.1)

Durch diese Überlegung gewinnt man die tiefe und sehr wichtige
Einsicht, dass unsere indoeuropäische Auffassung von "Sünde" überhaupt
mythisch ist, d. h. in ein Jenseits übergreift! Wie ganz und gar die
jüdische Auffassung abweicht, so dass dasselbe Wort bei ihnen einen
durchaus anderen Begriff bezeichnet, habe ich schon früher hervor-
gehoben (siehe S. 373); ich habe auch verschiedene moderne jüdische
Religionslehren durchgenommen, ohne an irgend einer Stelle eine Er-
örterung des Begriffes "Sünde" zu finden: wer das "Gesetz" nicht ver-
letzt, ist gerecht; dagegen wird von den jüdischen Theologen das aus
dem Alten Testament von den Christen entnommene Dogma von der
Erbsünde ausdrücklich und zwar mit äusserster Energie zurück-
gewiesen.2) Sinnen wir nun über diese durch ihre Geschichte und
Religion durchaus gerechtfertigte Position der Juden nach, so werden
wir bald zu der Überzeugung kommen, dass auf unserem abweichenden
Standpunkt Sünde und Erbsünde synonyme Ausdrücke sind. Es handelt
sich um einen unentrinnbaren Zustand alles Lebens. Unsere Vorstellung
der Sündhaftigkeit ist der erste Schritt auf dem Wege zu der Erkenntnis
eines transscendenten Zusammenhanges der Dinge; sie bezeugt die be-

1) Luther's Gedanken findet man in ziemlich undeutlicher Vorahnung im
5. Kap. der Epistel an die Römer, ganz ausführlich dagegen in den Schriften des
von ihm so besonders verehrten Scotus Erigena (siehe De div. Nat., Buch 5, Kap. 36).
2) Man schlage als Beispiel Philippson's Israelitische Religionslehre auf, II, 89.

Der Kampf.
Gnade, auf das Gespräch Christi mit Nikodemus verweisen, in welchem
das Wort »Wiedergeburt« ebenso sinnlos wäre, wie in der Genesis
die Erzählung von der Entartung der ersten Menschen durch den
Genuss eines Apfels, handelte es sich nicht dort wie hier lediglich um
die Sichtbarmachung eines zwar durchaus wirklichen, gegenwärtigen,
doch unsichtbaren und darum dem Verstande zunächst unfassbaren Vor-
ganges. Und bezüglich des Sündenfalles verweise ich ihn auf Luther,
welcher schreibt: »Die Erbsünde ist der Fall der ganzen Natur«; und
an anderer Stelle: »Es ist ja die Erde unschuldig und trüge viel lieber
das Beste; sie wird aber verhindert durch den Fluch, so über den
Menschen um der Sünde willen gegangen ist.« Hier wird ja, wie
man sieht, Wesensverwandtschaft zwischen dem Menschen in seinem
innersten Thun und der ganzen umgebenden Natur postuliert: das
ist indoeuropäische mythische Religion in ihrer vollen Entfaltung
(siehe S. 221 u. 392), welche — nebenbei gesagt — sobald sie in der
Vorstellungsweise der Vernunft sich kundthut (wie z. B. bei Schopen-
hauer), indoeuropäische metaphysische Erkenntnis bildet.1)

Durch diese Überlegung gewinnt man die tiefe und sehr wichtige
Einsicht, dass unsere indoeuropäische Auffassung von »Sünde« überhaupt
mythisch ist, d. h. in ein Jenseits übergreift! Wie ganz und gar die
jüdische Auffassung abweicht, so dass dasselbe Wort bei ihnen einen
durchaus anderen Begriff bezeichnet, habe ich schon früher hervor-
gehoben (siehe S. 373); ich habe auch verschiedene moderne jüdische
Religionslehren durchgenommen, ohne an irgend einer Stelle eine Er-
örterung des Begriffes »Sünde« zu finden: wer das »Gesetz« nicht ver-
letzt, ist gerecht; dagegen wird von den jüdischen Theologen das aus
dem Alten Testament von den Christen entnommene Dogma von der
Erbsünde ausdrücklich und zwar mit äusserster Energie zurück-
gewiesen.2) Sinnen wir nun über diese durch ihre Geschichte und
Religion durchaus gerechtfertigte Position der Juden nach, so werden
wir bald zu der Überzeugung kommen, dass auf unserem abweichenden
Standpunkt Sünde und Erbsünde synonyme Ausdrücke sind. Es handelt
sich um einen unentrinnbaren Zustand alles Lebens. Unsere Vorstellung
der Sündhaftigkeit ist der erste Schritt auf dem Wege zu der Erkenntnis
eines transscendenten Zusammenhanges der Dinge; sie bezeugt die be-

1) Luther’s Gedanken findet man in ziemlich undeutlicher Vorahnung im
5. Kap. der Epistel an die Römer, ganz ausführlich dagegen in den Schriften des
von ihm so besonders verehrten Scotus Erigena (siehe De div. Nat., Buch 5, Kap. 36).
2) Man schlage als Beispiel Philippson’s Israelitische Religionslehre auf, II, 89.
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[562/0041] Der Kampf. Gnade, auf das Gespräch Christi mit Nikodemus verweisen, in welchem das Wort »Wiedergeburt« ebenso sinnlos wäre, wie in der Genesis die Erzählung von der Entartung der ersten Menschen durch den Genuss eines Apfels, handelte es sich nicht dort wie hier lediglich um die Sichtbarmachung eines zwar durchaus wirklichen, gegenwärtigen, doch unsichtbaren und darum dem Verstande zunächst unfassbaren Vor- ganges. Und bezüglich des Sündenfalles verweise ich ihn auf Luther, welcher schreibt: »Die Erbsünde ist der Fall der ganzen Natur«; und an anderer Stelle: »Es ist ja die Erde unschuldig und trüge viel lieber das Beste; sie wird aber verhindert durch den Fluch, so über den Menschen um der Sünde willen gegangen ist.« Hier wird ja, wie man sieht, Wesensverwandtschaft zwischen dem Menschen in seinem innersten Thun und der ganzen umgebenden Natur postuliert: das ist indoeuropäische mythische Religion in ihrer vollen Entfaltung (siehe S. 221 u. 392), welche — nebenbei gesagt — sobald sie in der Vorstellungsweise der Vernunft sich kundthut (wie z. B. bei Schopen- hauer), indoeuropäische metaphysische Erkenntnis bildet. 1) Durch diese Überlegung gewinnt man die tiefe und sehr wichtige Einsicht, dass unsere indoeuropäische Auffassung von »Sünde« überhaupt mythisch ist, d. h. in ein Jenseits übergreift! Wie ganz und gar die jüdische Auffassung abweicht, so dass dasselbe Wort bei ihnen einen durchaus anderen Begriff bezeichnet, habe ich schon früher hervor- gehoben (siehe S. 373); ich habe auch verschiedene moderne jüdische Religionslehren durchgenommen, ohne an irgend einer Stelle eine Er- örterung des Begriffes »Sünde« zu finden: wer das »Gesetz« nicht ver- letzt, ist gerecht; dagegen wird von den jüdischen Theologen das aus dem Alten Testament von den Christen entnommene Dogma von der Erbsünde ausdrücklich und zwar mit äusserster Energie zurück- gewiesen. 2) Sinnen wir nun über diese durch ihre Geschichte und Religion durchaus gerechtfertigte Position der Juden nach, so werden wir bald zu der Überzeugung kommen, dass auf unserem abweichenden Standpunkt Sünde und Erbsünde synonyme Ausdrücke sind. Es handelt sich um einen unentrinnbaren Zustand alles Lebens. Unsere Vorstellung der Sündhaftigkeit ist der erste Schritt auf dem Wege zu der Erkenntnis eines transscendenten Zusammenhanges der Dinge; sie bezeugt die be- 1) Luther’s Gedanken findet man in ziemlich undeutlicher Vorahnung im 5. Kap. der Epistel an die Römer, ganz ausführlich dagegen in den Schriften des von ihm so besonders verehrten Scotus Erigena (siehe De div. Nat., Buch 5, Kap. 36). 2) Man schlage als Beispiel Philippson’s Israelitische Religionslehre auf, II, 89.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 562. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/41>, abgerufen am 18.04.2024.