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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
ginnende unmittelbare Erfahrung dieses Zusammenhanges, die in den
Worten Christi: das Himmelreich ist inwendig in euch (siehe S. 199)
ihre Vollendung erfuhr. Definiert Augustinus: "Peccatum est dictum,
factum vel concupitum contra legem aeternam
",1) so ist das nur eine ober-
flächliche Erweiterung jüdischer Vorstellungen, wogegen Paulus der Sache
auf den Grund ging, indem er die Sünde selbst ein "Gesetz" nannte, ein
Gesetz des Fleisches, oder, wie wir heute sagen würden, ein empirisches
Naturgesetz, und indem er in einer berühmten, für dunkel gehaltenen
und vielfach kommentierten, doch in Wirklichkeit durchaus klaren Stelle
(Römer VIII) darthut, das kirchliche Gesetz, jene angebliche lex aeterna
des Augustinus, habe über die Sünde, die eine Thatsache der Natur sei,
nicht die geringste Macht, vielmehr könne hier einzig Gnade helfen.2)
Die genaue Wiedergabe des altindischen Gedankens! Schon der Vedische
Sänger "forscht begierig nach seiner Sünde" und findet sie nicht in
seinem Willen, sondern in seinem Zustande, der ihm sogar im Traume
Unrechtes vorspiegelt, und zuletzt wendet er sich an den Gott, der die
Einfältigen erleuchtet, "den Gott der Gnade".3) Und in gleicher Weise
wie später Origenes, Erigena und Luther, fasst die Careiraka-Meimansa alle
lebenden Wesen als "der Erlösung bedürftig, doch einzig die Menschen
ihrer fähig" auf.4) Erst aus dieser Auffassung der Sünde als eines Zu-
standes
, nicht als der Übertretung eines Gesetzes, ergiebt sich die
Vorstellung der Erlösungsbedürftigkeit, sowie diejenige der Gnade. Es
handelt sich hier um die innerlichsten Erfahrungen der individuellen
Seele, welche, so weit es geht, durch mythische Bilder sichtbar und
mitteilbar gestaltet werden.

Wie unvermeidlich der Kampf auf diesem ganzen Gebiete derDer Kampf
um die
Mythologie.

Mythenbildung war, erhellt aus der einfachen Überlegung, dass der-
artige Vorstellungen der jüdischen Auffassung von Religion direkt wider-

1) Sünde ist eine Verletzung des ewigen Gesetzes durch Wort, That oder
Begierde.
2) Man vergl. namentlich Pfleiderer: Der Paulinismus, II. Aufl., S. 50 fg. Diese
rein wissenschaftlich-theologische Darstellung weicht von der meinigen natürlich ab,
bestätigt sie aber dennoch, namentlich durch den Nachweis (S. 59), dass Paulus
das Vorhandensein eines Sündentriebes vor dem Falle annahm, was offenbar nichts
anderes bedeuten kann, als ein Hinausrücken des Mythus über willkürliche historische
Grenzen; dann auch durch die klare Beweisführung, dass Paulus -- entgegen der
augustinischen Dogmatik -- die gemeinsame und immer gleiche Quelle alles sündigen
Wesens im Fleisch erkannte (S. 60).
3) Rigveda VII, 86.
4) Cankara: Die Sautra's des Vedanta, I, 3, 25.
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Religion.
ginnende unmittelbare Erfahrung dieses Zusammenhanges, die in den
Worten Christi: das Himmelreich ist inwendig in euch (siehe S. 199)
ihre Vollendung erfuhr. Definiert Augustinus: »Peccatum est dictum,
factum vel concupitum contra legem aeternam
«,1) so ist das nur eine ober-
flächliche Erweiterung jüdischer Vorstellungen, wogegen Paulus der Sache
auf den Grund ging, indem er die Sünde selbst ein »Gesetz« nannte, ein
Gesetz des Fleisches, oder, wie wir heute sagen würden, ein empirisches
Naturgesetz, und indem er in einer berühmten, für dunkel gehaltenen
und vielfach kommentierten, doch in Wirklichkeit durchaus klaren Stelle
(Römer VIII) darthut, das kirchliche Gesetz, jene angebliche lex aeterna
des Augustinus, habe über die Sünde, die eine Thatsache der Natur sei,
nicht die geringste Macht, vielmehr könne hier einzig Gnade helfen.2)
Die genaue Wiedergabe des altindischen Gedankens! Schon der Vedische
Sänger »forscht begierig nach seiner Sünde« und findet sie nicht in
seinem Willen, sondern in seinem Zustande, der ihm sogar im Traume
Unrechtes vorspiegelt, und zuletzt wendet er sich an den Gott, der die
Einfältigen erleuchtet, »den Gott der Gnade«.3) Und in gleicher Weise
wie später Origenes, Erigena und Luther, fasst die Çârîraka-Mîmânsâ alle
lebenden Wesen als »der Erlösung bedürftig, doch einzig die Menschen
ihrer fähig« auf.4) Erst aus dieser Auffassung der Sünde als eines Zu-
standes
, nicht als der Übertretung eines Gesetzes, ergiebt sich die
Vorstellung der Erlösungsbedürftigkeit, sowie diejenige der Gnade. Es
handelt sich hier um die innerlichsten Erfahrungen der individuellen
Seele, welche, so weit es geht, durch mythische Bilder sichtbar und
mitteilbar gestaltet werden.

Wie unvermeidlich der Kampf auf diesem ganzen Gebiete derDer Kampf
um die
Mythologie.

Mythenbildung war, erhellt aus der einfachen Überlegung, dass der-
artige Vorstellungen der jüdischen Auffassung von Religion direkt wider-

1) Sünde ist eine Verletzung des ewigen Gesetzes durch Wort, That oder
Begierde.
2) Man vergl. namentlich Pfleiderer: Der Paulinismus, II. Aufl., S. 50 fg. Diese
rein wissenschaftlich-theologische Darstellung weicht von der meinigen natürlich ab,
bestätigt sie aber dennoch, namentlich durch den Nachweis (S. 59), dass Paulus
das Vorhandensein eines Sündentriebes vor dem Falle annahm, was offenbar nichts
anderes bedeuten kann, als ein Hinausrücken des Mythus über willkürliche historische
Grenzen; dann auch durch die klare Beweisführung, dass Paulus — entgegen der
augustinischen Dogmatik — die gemeinsame und immer gleiche Quelle alles sündigen
Wesens im Fleisch erkannte (S. 60).
3) Rigveda VII, 86.
4) Çankara: Die Sûtra’s des Vedânta, I, 3, 25.
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[563/0042] Religion. ginnende unmittelbare Erfahrung dieses Zusammenhanges, die in den Worten Christi: das Himmelreich ist inwendig in euch (siehe S. 199) ihre Vollendung erfuhr. Definiert Augustinus: »Peccatum est dictum, factum vel concupitum contra legem aeternam«, 1) so ist das nur eine ober- flächliche Erweiterung jüdischer Vorstellungen, wogegen Paulus der Sache auf den Grund ging, indem er die Sünde selbst ein »Gesetz« nannte, ein Gesetz des Fleisches, oder, wie wir heute sagen würden, ein empirisches Naturgesetz, und indem er in einer berühmten, für dunkel gehaltenen und vielfach kommentierten, doch in Wirklichkeit durchaus klaren Stelle (Römer VIII) darthut, das kirchliche Gesetz, jene angebliche lex aeterna des Augustinus, habe über die Sünde, die eine Thatsache der Natur sei, nicht die geringste Macht, vielmehr könne hier einzig Gnade helfen. 2) Die genaue Wiedergabe des altindischen Gedankens! Schon der Vedische Sänger »forscht begierig nach seiner Sünde« und findet sie nicht in seinem Willen, sondern in seinem Zustande, der ihm sogar im Traume Unrechtes vorspiegelt, und zuletzt wendet er sich an den Gott, der die Einfältigen erleuchtet, »den Gott der Gnade«. 3) Und in gleicher Weise wie später Origenes, Erigena und Luther, fasst die Çârîraka-Mîmânsâ alle lebenden Wesen als »der Erlösung bedürftig, doch einzig die Menschen ihrer fähig« auf. 4) Erst aus dieser Auffassung der Sünde als eines Zu- standes, nicht als der Übertretung eines Gesetzes, ergiebt sich die Vorstellung der Erlösungsbedürftigkeit, sowie diejenige der Gnade. Es handelt sich hier um die innerlichsten Erfahrungen der individuellen Seele, welche, so weit es geht, durch mythische Bilder sichtbar und mitteilbar gestaltet werden. Wie unvermeidlich der Kampf auf diesem ganzen Gebiete der Mythenbildung war, erhellt aus der einfachen Überlegung, dass der- artige Vorstellungen der jüdischen Auffassung von Religion direkt wider- Der Kampf um die Mythologie. 1) Sünde ist eine Verletzung des ewigen Gesetzes durch Wort, That oder Begierde. 2) Man vergl. namentlich Pfleiderer: Der Paulinismus, II. Aufl., S. 50 fg. Diese rein wissenschaftlich-theologische Darstellung weicht von der meinigen natürlich ab, bestätigt sie aber dennoch, namentlich durch den Nachweis (S. 59), dass Paulus das Vorhandensein eines Sündentriebes vor dem Falle annahm, was offenbar nichts anderes bedeuten kann, als ein Hinausrücken des Mythus über willkürliche historische Grenzen; dann auch durch die klare Beweisführung, dass Paulus — entgegen der augustinischen Dogmatik — die gemeinsame und immer gleiche Quelle alles sündigen Wesens im Fleisch erkannte (S. 60). 3) Rigveda VII, 86. 4) Çankara: Die Sûtra’s des Vedânta, I, 3, 25. 36*

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 563. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/42>, abgerufen am 28.03.2024.