Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

Bild:
<< vorherige Seite
vom Zuschauer und Sehepunckte.
§. 15.
Hauptarten der Sehepunckte, wovon die
Einsicht abhanget.

Nun lässet sich jede Sache auf gar vielen Sei-
ten ansehen, nachdem Stände möglich sind, von
welchen Zuschauer darüber kommen. Und wie diese
Stände unzehlig sind, also sind auch die Seiten
unzehlig, auf welchen einerley Sache betrachtet
werden kan. Was vor eine Menge Leute von
verschiedenen Ständen kommen nicht bey einer
Käyserwahl und Krönung zusammen: jeder da-
von giebt nach seinem Stande auf verschiedene
Dinge achtung: jeder hält das, wenigstens in
Ansehung seiner Person vor das wichtigste, was
ihm am meisten angehet. Und ein nicht gerin-
gerer Wechsel findet in Ansehung der Einsicht
statt, mit welcher man einerley Sache betrachten
kan. Unterdessen giebt es doch gewisse hauptsäch-
liche Sehepunckte, welche eine besondere Art der
Einsicht nach sich ziehen, die man bey einem an-
dern Sehepunckte nicht haben kan. Und diese
Arten verdienen in unserer Anleitung zur histori-
schen Erkentniß besonders bemercket zu werden:
weilen die daraus flüssenden Erzehlungen in man-
chen Fällen so verschieden ausfallen können, daß,
wenn Leute von verschiedenen Sehepunckten ihre
Erzehlungen gegen einander halten, sie einander
gar nicht verstehen: Fremde aber sich einbilden,
einer müsse darunter muthwillig die Unwahrheit
gesagt haben.

§. 16.
G 4
vom Zuſchauer und Sehepunckte.
§. 15.
Hauptarten der Sehepunckte, wovon die
Einſicht abhanget.

Nun laͤſſet ſich jede Sache auf gar vielen Sei-
ten anſehen, nachdem Staͤnde moͤglich ſind, von
welchen Zuſchauer daruͤber kommen. Und wie dieſe
Staͤnde unzehlig ſind, alſo ſind auch die Seiten
unzehlig, auf welchen einerley Sache betrachtet
werden kan. Was vor eine Menge Leute von
verſchiedenen Staͤnden kommen nicht bey einer
Kaͤyſerwahl und Kroͤnung zuſammen: jeder da-
von giebt nach ſeinem Stande auf verſchiedene
Dinge achtung: jeder haͤlt das, wenigſtens in
Anſehung ſeiner Perſon vor das wichtigſte, was
ihm am meiſten angehet. Und ein nicht gerin-
gerer Wechſel findet in Anſehung der Einſicht
ſtatt, mit welcher man einerley Sache betrachten
kan. Unterdeſſen giebt es doch gewiſſe hauptſaͤch-
liche Sehepunckte, welche eine beſondere Art der
Einſicht nach ſich ziehen, die man bey einem an-
dern Sehepunckte nicht haben kan. Und dieſe
Arten verdienen in unſerer Anleitung zur hiſtori-
ſchen Erkentniß beſonders bemercket zu werden:
weilen die daraus fluͤſſenden Erzehlungen in man-
chen Faͤllen ſo verſchieden ausfallen koͤnnen, daß,
wenn Leute von verſchiedenen Sehepunckten ihre
Erzehlungen gegen einander halten, ſie einander
gar nicht verſtehen: Fremde aber ſich einbilden,
einer muͤſſe darunter muthwillig die Unwahrheit
geſagt haben.

§. 16.
G 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0139" n="103"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b">vom Zu&#x017F;chauer und Sehepunckte.</hi> </fw><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 15.<lb/>
Hauptarten der Sehepunckte, wovon die<lb/>
Ein&#x017F;icht abhanget.</head><lb/>
          <p>Nun la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et &#x017F;ich jede Sache auf gar vielen Sei-<lb/>
ten an&#x017F;ehen, nachdem <hi rendition="#fr">Sta&#x0364;nde</hi> mo&#x0364;glich &#x017F;ind, von<lb/>
welchen Zu&#x017F;chauer daru&#x0364;ber kommen. Und wie die&#x017F;e<lb/>
Sta&#x0364;nde unzehlig &#x017F;ind, al&#x017F;o &#x017F;ind auch die Seiten<lb/>
unzehlig, auf welchen einerley Sache betrachtet<lb/>
werden kan. Was vor eine Menge Leute von<lb/>
ver&#x017F;chiedenen Sta&#x0364;nden kommen nicht bey einer<lb/>
Ka&#x0364;y&#x017F;erwahl und Kro&#x0364;nung zu&#x017F;ammen: jeder da-<lb/>
von giebt nach &#x017F;einem Stande auf ver&#x017F;chiedene<lb/>
Dinge achtung: jeder ha&#x0364;lt das, wenig&#x017F;tens in<lb/>
An&#x017F;ehung &#x017F;einer Per&#x017F;on vor das wichtig&#x017F;te, was<lb/>
ihm am mei&#x017F;ten angehet. Und ein nicht gerin-<lb/>
gerer Wech&#x017F;el findet in An&#x017F;ehung der <hi rendition="#fr">Ein&#x017F;icht</hi><lb/>
&#x017F;tatt, mit welcher man einerley Sache betrachten<lb/>
kan. Unterde&#x017F;&#x017F;en giebt es doch gewi&#x017F;&#x017F;e haupt&#x017F;a&#x0364;ch-<lb/>
liche Sehepunckte, welche eine be&#x017F;ondere Art der<lb/>
Ein&#x017F;icht nach &#x017F;ich ziehen, die man bey einem an-<lb/>
dern Sehepunckte nicht haben kan. Und die&#x017F;e<lb/>
Arten verdienen in un&#x017F;erer Anleitung zur hi&#x017F;tori-<lb/>
&#x017F;chen Erkentniß be&#x017F;onders bemercket zu werden:<lb/>
weilen die daraus flu&#x0364;&#x017F;&#x017F;enden Erzehlungen in man-<lb/>
chen Fa&#x0364;llen &#x017F;o ver&#x017F;chieden ausfallen ko&#x0364;nnen, daß,<lb/>
wenn Leute von ver&#x017F;chiedenen Sehepunckten ihre<lb/>
Erzehlungen gegen einander halten, &#x017F;ie einander<lb/>
gar nicht ver&#x017F;tehen: Fremde aber &#x017F;ich einbilden,<lb/>
einer mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e darunter muthwillig die Unwahrheit<lb/>
ge&#x017F;agt haben.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">G 4</fw>
        <fw place="bottom" type="catch">§. 16.</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[103/0139] vom Zuſchauer und Sehepunckte. §. 15. Hauptarten der Sehepunckte, wovon die Einſicht abhanget. Nun laͤſſet ſich jede Sache auf gar vielen Sei- ten anſehen, nachdem Staͤnde moͤglich ſind, von welchen Zuſchauer daruͤber kommen. Und wie dieſe Staͤnde unzehlig ſind, alſo ſind auch die Seiten unzehlig, auf welchen einerley Sache betrachtet werden kan. Was vor eine Menge Leute von verſchiedenen Staͤnden kommen nicht bey einer Kaͤyſerwahl und Kroͤnung zuſammen: jeder da- von giebt nach ſeinem Stande auf verſchiedene Dinge achtung: jeder haͤlt das, wenigſtens in Anſehung ſeiner Perſon vor das wichtigſte, was ihm am meiſten angehet. Und ein nicht gerin- gerer Wechſel findet in Anſehung der Einſicht ſtatt, mit welcher man einerley Sache betrachten kan. Unterdeſſen giebt es doch gewiſſe hauptſaͤch- liche Sehepunckte, welche eine beſondere Art der Einſicht nach ſich ziehen, die man bey einem an- dern Sehepunckte nicht haben kan. Und dieſe Arten verdienen in unſerer Anleitung zur hiſtori- ſchen Erkentniß beſonders bemercket zu werden: weilen die daraus fluͤſſenden Erzehlungen in man- chen Faͤllen ſo verſchieden ausfallen koͤnnen, daß, wenn Leute von verſchiedenen Sehepunckten ihre Erzehlungen gegen einander halten, ſie einander gar nicht verſtehen: Fremde aber ſich einbilden, einer muͤſſe darunter muthwillig die Unwahrheit geſagt haben. §. 16. G 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/139
Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/139>, abgerufen am 29.03.2024.