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Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752.

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von der Gewißheit der Geschichte etc.
bleiben möge, so daß sie niemahls auf das Gegen-
theil durch Ungewißheit verfallen.

§. 8.
Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.

Es ist also zu untersuchen, woher es komme, daß
ein Urtheil, welches wir einmahl gefället, unver-
ändert
verbleibe? und woher wir wissen können,
daß solches geschehen werde? So viel siehet man
leichte, daß ein falsches Urtheil nicht völlig gewiß
seyn könne, und daß also die Wahrheit bey der
Gewißheit zu Grunde gelegt werden müsse; ob-
gleich auch die Unwahrheiten sich unglaublich tieff
einzuprägen pflegen, und denen Leuten öffters eine
lange Zeit gewiß sind. Ja! die Menschen hafften
offt stärcker an der Lügen, als an der Wahrheit.
Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen
Vorzug vor der Unwahrheit und Lügen hat; so ist
es allemahl möglich, daß man endlich seinen Jrr-
thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß:
daß also bey Jrrthümern und Lügen keine Ge-
wißheit
im eigentlichen Verstande, sondern nur
auf eine gewisse Zeit abzusehen ist; welches aber
freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit,
als Gewißheit zu nennen ist. Es ist aber zur Ge-
wißheit nicht genug, daß die Sache wahr ist.
Denn vermöge der Erfahrung können auch Jrr-
thümer und Lügen den Schein der Wahrheit bekom-
men, und hingegen die Wahrheit kan ausser
dem Zusammenhange ohne ihren Gründen, worauf
sie beruhet, ja auch wohl verstimmlet vorgetragen

und
T

von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc.
bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen-
theil durch Ungewißheit verfallen.

§. 8.
Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit.

Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß
ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, unver-
aͤndert
verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen,
daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man
leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß
ſeyn koͤnne, und daß alſo die Wahrheit bey der
Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob-
gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff
einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine
lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften
offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit.
Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen
Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt
es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr-
thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß:
daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine Ge-
wißheit
im eigentlichen Verſtande, ſondern nur
auf eine gewiſſe Zeit abzuſehen iſt; welches aber
freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit,
als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge-
wißheit nicht genug, daß die Sache wahr iſt.
Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr-
thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom-
men, und hingegen die Wahrheit kan auſſer
dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf
ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen

und
T
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[289/0325] von der Gewißheit der Geſchichte ꝛc. bleiben moͤge, ſo daß ſie niemahls auf das Gegen- theil durch Ungewißheit verfallen. §. 8. Vergleichung der Gewißheit und Wahrheit. Es iſt alſo zu unterſuchen, woher es komme, daß ein Urtheil, welches wir einmahl gefaͤllet, unver- aͤndert verbleibe? und woher wir wiſſen koͤnnen, daß ſolches geſchehen werde? So viel ſiehet man leichte, daß ein falſches Urtheil nicht voͤllig gewiß ſeyn koͤnne, und daß alſo die Wahrheit bey der Gewißheit zu Grunde gelegt werden muͤſſe; ob- gleich auch die Unwahrheiten ſich unglaublich tieff einzupraͤgen pflegen, und denen Leuten oͤffters eine lange Zeit gewiß ſind. Ja! die Menſchen hafften offt ſtaͤrcker an der Luͤgen, als an der Wahrheit. Aber dennoch, da die Wahrheit ihren innerlichen Vorzug vor der Unwahrheit und Luͤgen hat; ſo iſt es allemahl moͤglich, daß man endlich ſeinen Jrr- thum erkennet, und der Wahrheit Platz geben muß: daß alſo bey Jrrthuͤmern und Luͤgen keine Ge- wißheit im eigentlichen Verſtande, ſondern nur auf eine gewiſſe Zeit abzuſehen iſt; welches aber freylich eher Trotz, Blindheit, Tummheit, als Gewißheit zu nennen iſt. Es iſt aber zur Ge- wißheit nicht genug, daß die Sache wahr iſt. Denn vermoͤge der Erfahrung koͤnnen auch Jrr- thuͤmer und Luͤgen den Schein der Wahrheit bekom- men, und hingegen die Wahrheit kan auſſer dem Zuſammenhange ohne ihren Gruͤnden, worauf ſie beruhet, ja auch wohl verſtimmlet vorgetragen und T

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Zitationshilfe: Chladni, Johann Martin: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig, 1752. , S. 289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chladni_geschichtswissenschaft_1752/325>, abgerufen am 29.03.2024.