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Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889].

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III.

Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer
Wohnung langsam emporgestiegen. Sie hatte beim
Hinaufgehen öfter inne halten, öfter stehen bleiben
und Athem schöpfen müssen. Was war ihr nur?
Es lag ein Druck auf ihr, den sie sich nicht erklären
konnte. Schreckte sie auf einmal zurück vor der Enge,
Einförmigkeit und Kärglichkeit der Existenz, die sie
mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, schwerhörigen
Vater führte? Nun schon seit Jahr und Tag führte?
Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl
war sie im Grunde sehr gleichgültig durch diese
sie umflirrende Welt gegangen. Sie besaß nicht das
Talent, sich in die Herzen der Menschen hineinzu-
denken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder
Gesichtsmaske ein Schicksal zu suchen. Sie dachte
an die Menschen eigentlich kaum, sie dachte kaum
an sich, sie lebte nur auf, bestätigte sich nur, wenn
sie mit ihrem Vater in intim-wissenschaftlichen,
zumeist philosophischen Verkehr trat. Eine tiefere
Tendenz ihrer Natur stellte dieses ernste Studium
allerdings auch nicht dar. Sie mußte sich oft zwin-
gen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine

III.

Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer
Wohnung langſam emporgeſtiegen. Sie hatte beim
Hinaufgehen öfter inne halten, öfter ſtehen bleiben
und Athem ſchöpfen müſſen. Was war ihr nur?
Es lag ein Druck auf ihr, den ſie ſich nicht erklären
konnte. Schreckte ſie auf einmal zurück vor der Enge,
Einförmigkeit und Kärglichkeit der Exiſtenz, die ſie
mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, ſchwerhörigen
Vater führte? Nun ſchon ſeit Jahr und Tag führte?
Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl
war ſie im Grunde ſehr gleichgültig durch dieſe
ſie umflirrende Welt gegangen. Sie beſaß nicht das
Talent, ſich in die Herzen der Menſchen hineinzu-
denken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder
Geſichtsmaske ein Schickſal zu ſuchen. Sie dachte
an die Menſchen eigentlich kaum, ſie dachte kaum
an ſich, ſie lebte nur auf, beſtätigte ſich nur, wenn
ſie mit ihrem Vater in intim-wiſſenſchaftlichen,
zumeiſt philoſophiſchen Verkehr trat. Eine tiefere
Tendenz ihrer Natur ſtellte dieſes ernſte Studium
allerdings auch nicht dar. Sie mußte ſich oft zwin-
gen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine

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[[22]/0030] III. Hedwig Irmer war die drei Treppen zu ihrer Wohnung langſam emporgeſtiegen. Sie hatte beim Hinaufgehen öfter inne halten, öfter ſtehen bleiben und Athem ſchöpfen müſſen. Was war ihr nur? Es lag ein Druck auf ihr, den ſie ſich nicht erklären konnte. Schreckte ſie auf einmal zurück vor der Enge, Einförmigkeit und Kärglichkeit der Exiſtenz, die ſie mit ihrem halb gelähmten, halb blinden, ſchwerhörigen Vater führte? Nun ſchon ſeit Jahr und Tag führte? Sie kam wieder einmal draußen aus der Welt. Wohl war ſie im Grunde ſehr gleichgültig durch dieſe ſie umflirrende Welt gegangen. Sie beſaß nicht das Talent, ſich in die Herzen der Menſchen hineinzu- denken. Sie hatte nicht das Bedürfniß, hinter jeder Geſichtsmaske ein Schickſal zu ſuchen. Sie dachte an die Menſchen eigentlich kaum, ſie dachte kaum an ſich, ſie lebte nur auf, beſtätigte ſich nur, wenn ſie mit ihrem Vater in intim-wiſſenſchaftlichen, zumeiſt philoſophiſchen Verkehr trat. Eine tiefere Tendenz ihrer Natur ſtellte dieſes ernſte Studium allerdings auch nicht dar. Sie mußte ſich oft zwin- gen, zu den Büchern zu greifen, wenn nicht eine

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Zitationshilfe: Conradi, Hermann: Adam Mensch. Leipzig, [1889], S. [22]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/conradi_adam_1889/30>, abgerufen am 25.04.2024.