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Darwin, Charles: Insectenfressende Pflanzen. Übers. v. Julius Victor Carus. Stuttgart, 1876.

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Drosera rotundifolia. Cap. 1.
einen motorischen Reiz auf die randständigen Tentakeln. Die nächst-
stehenden werden zuerst afficirt und neigen sich langsam nach der
Mitte hin, dann die entfernteren, bis sie zuletzt alle über dem Gegen-
stand dicht zusammen gebogen sind. Dies findet in einer Stunde bis
zu vier oder fünf oder noch mehr Stunden statt. Die Verschiedenheit
in der hierzu erforderlichen Zeit hängt von vielen Umständen ab,
nämlich von der Grösze des Gegenstandes und dessen Beschaffenheit,
das heiszt, ob er auflösliche Substanz der richtigen Art enthält, von
der Lebenskraft und dem Alter des Blattes, ob es kürzlich in Thätig-
keit gewesen ist, und der Angabe Nitschke's6 zufolge von der Tem-
peratur des Tages, was auch mir der Fall zu sein schien. Ein leben-
des Insect ist ein wirksamerer Gegenstand als ein todtes, da es beim
Sichsträuben die Drüsen vieler Fühler drückt. Ein Insect, wie z. B.
eine Fliege, mit dünner Haut, durch welche die thierische Substanz
in Auflösung leicht in die umgebende dicke Absonderung dringen kann,
ist viel wirksamer, eine verlängerte Einbiegung zu verursachen, als ein
Insect mit einer dicken Haut wie ein Käfer. Die Einbiegung der Ten-
takeln findet ohne Unterschied im Licht und in der Dunkelheit statt,
und die Pflanze bietet keine nächtliche Bewegung eines sogenannten
Pflanzenschlafes dar.

Wenn die Drüsen auf der Blattscheibe wiederholt berührt oder
bestrichen werden, wenn auch kein Gegenstand auf ihnen liegen
gelassen wird, so biegen sich die randständigen Tentakeln doch
einwärts. Ferner, wenn Tropfen von verschiedenen Flüssigkeiten,
von Speichel oder einer Auflösung von irgend einem Ammoniaksalz
auf die mittelsten Drüsen gebracht werden, so tritt schnell dasselbe
Resultat ein, zuweilen in weniger als einer halben Stunde.

Die Tentakeln durchlaufen einen weiten Raum im Acte der Ein-
biegung; so bewegt sich ein randständiger Tentakel, welcher in einer
Ebene mit der Blattscheibe ausgestreckt war, durch einen Winkel von
180°; und ich habe die stark zurückgebognen Tentakeln eines Blattes,
welches aufrecht stand, sich durch einen Winkel von nicht weniger
als 270° bewegen sehen. Der sich biegende Theil ist beinahe gänz-
lich auf einen kurzen Raum in der Nähe der Basis beschränkt; aber
eine im Ganzen gröszere Partie der verlängerten äuszeren Tentakeln
wird unbedeutend gebogen; die der Spitze nähere Hälfte bleibt in allen
Fällen gerade. Die kurzen Tentakeln in der Mitte der Scheibe wer-

6 Botan. Zeitung, 1860, p. 216.

Drosera rotundifolia. Cap. 1.
einen motorischen Reiz auf die randständigen Tentakeln. Die nächst-
stehenden werden zuerst afficirt und neigen sich langsam nach der
Mitte hin, dann die entfernteren, bis sie zuletzt alle über dem Gegen-
stand dicht zusammen gebogen sind. Dies findet in einer Stunde bis
zu vier oder fünf oder noch mehr Stunden statt. Die Verschiedenheit
in der hierzu erforderlichen Zeit hängt von vielen Umständen ab,
nämlich von der Grösze des Gegenstandes und dessen Beschaffenheit,
das heiszt, ob er auflösliche Substanz der richtigen Art enthält, von
der Lebenskraft und dem Alter des Blattes, ob es kürzlich in Thätig-
keit gewesen ist, und der Angabe Nitschke’s6 zufolge von der Tem-
peratur des Tages, was auch mir der Fall zu sein schien. Ein leben-
des Insect ist ein wirksamerer Gegenstand als ein todtes, da es beim
Sichsträuben die Drüsen vieler Fühler drückt. Ein Insect, wie z. B.
eine Fliege, mit dünner Haut, durch welche die thierische Substanz
in Auflösung leicht in die umgebende dicke Absonderung dringen kann,
ist viel wirksamer, eine verlängerte Einbiegung zu verursachen, als ein
Insect mit einer dicken Haut wie ein Käfer. Die Einbiegung der Ten-
takeln findet ohne Unterschied im Licht und in der Dunkelheit statt,
und die Pflanze bietet keine nächtliche Bewegung eines sogenannten
Pflanzenschlafes dar.

Wenn die Drüsen auf der Blattscheibe wiederholt berührt oder
bestrichen werden, wenn auch kein Gegenstand auf ihnen liegen
gelassen wird, so biegen sich die randständigen Tentakeln doch
einwärts. Ferner, wenn Tropfen von verschiedenen Flüssigkeiten,
von Speichel oder einer Auflösung von irgend einem Ammoniaksalz
auf die mittelsten Drüsen gebracht werden, so tritt schnell dasselbe
Resultat ein, zuweilen in weniger als einer halben Stunde.

Die Tentakeln durchlaufen einen weiten Raum im Acte der Ein-
biegung; so bewegt sich ein randständiger Tentakel, welcher in einer
Ebene mit der Blattscheibe ausgestreckt war, durch einen Winkel von
180°; und ich habe die stark zurückgebognen Tentakeln eines Blattes,
welches aufrecht stand, sich durch einen Winkel von nicht weniger
als 270° bewegen sehen. Der sich biegende Theil ist beinahe gänz-
lich auf einen kurzen Raum in der Nähe der Basis beschränkt; aber
eine im Ganzen gröszere Partie der verlängerten äuszeren Tentakeln
wird unbedeutend gebogen; die der Spitze nähere Hälfte bleibt in allen
Fällen gerade. Die kurzen Tentakeln in der Mitte der Scheibe wer-

6 Botan. Zeitung, 1860, p. 216.
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[8/0022] Drosera rotundifolia. Cap. 1. einen motorischen Reiz auf die randständigen Tentakeln. Die nächst- stehenden werden zuerst afficirt und neigen sich langsam nach der Mitte hin, dann die entfernteren, bis sie zuletzt alle über dem Gegen- stand dicht zusammen gebogen sind. Dies findet in einer Stunde bis zu vier oder fünf oder noch mehr Stunden statt. Die Verschiedenheit in der hierzu erforderlichen Zeit hängt von vielen Umständen ab, nämlich von der Grösze des Gegenstandes und dessen Beschaffenheit, das heiszt, ob er auflösliche Substanz der richtigen Art enthält, von der Lebenskraft und dem Alter des Blattes, ob es kürzlich in Thätig- keit gewesen ist, und der Angabe Nitschke’s 6 zufolge von der Tem- peratur des Tages, was auch mir der Fall zu sein schien. Ein leben- des Insect ist ein wirksamerer Gegenstand als ein todtes, da es beim Sichsträuben die Drüsen vieler Fühler drückt. Ein Insect, wie z. B. eine Fliege, mit dünner Haut, durch welche die thierische Substanz in Auflösung leicht in die umgebende dicke Absonderung dringen kann, ist viel wirksamer, eine verlängerte Einbiegung zu verursachen, als ein Insect mit einer dicken Haut wie ein Käfer. Die Einbiegung der Ten- takeln findet ohne Unterschied im Licht und in der Dunkelheit statt, und die Pflanze bietet keine nächtliche Bewegung eines sogenannten Pflanzenschlafes dar. Wenn die Drüsen auf der Blattscheibe wiederholt berührt oder bestrichen werden, wenn auch kein Gegenstand auf ihnen liegen gelassen wird, so biegen sich die randständigen Tentakeln doch einwärts. Ferner, wenn Tropfen von verschiedenen Flüssigkeiten, von Speichel oder einer Auflösung von irgend einem Ammoniaksalz auf die mittelsten Drüsen gebracht werden, so tritt schnell dasselbe Resultat ein, zuweilen in weniger als einer halben Stunde. Die Tentakeln durchlaufen einen weiten Raum im Acte der Ein- biegung; so bewegt sich ein randständiger Tentakel, welcher in einer Ebene mit der Blattscheibe ausgestreckt war, durch einen Winkel von 180°; und ich habe die stark zurückgebognen Tentakeln eines Blattes, welches aufrecht stand, sich durch einen Winkel von nicht weniger als 270° bewegen sehen. Der sich biegende Theil ist beinahe gänz- lich auf einen kurzen Raum in der Nähe der Basis beschränkt; aber eine im Ganzen gröszere Partie der verlängerten äuszeren Tentakeln wird unbedeutend gebogen; die der Spitze nähere Hälfte bleibt in allen Fällen gerade. Die kurzen Tentakeln in der Mitte der Scheibe wer- 6 Botan. Zeitung, 1860, p. 216.

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Zitationshilfe: Darwin, Charles: Insectenfressende Pflanzen. Übers. v. Julius Victor Carus. Stuttgart, 1876, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/darwin_pflanzen_1876/22>, abgerufen am 29.03.2024.