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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
auf deren Beantwortung allerdings die Forschung heute noch
nicht vorbereitet ist; wie verhält sich Witz zur gleichzeitigen
schwäbischen Mystik? und besteht vielleicht eine Verdingungs-
linie zwischen ihr und dem Slütenschen Kreise? Witz' Ge-
stalten, wie sie auch im neuen malerischen Sinne zu ihrer
Umgebung in Beziehung gesetzt sind, haben doch zugleich
etwas plastisch Festes und Abgeschlossenes, das nicht weniger
neu ist. In jedem Falle muß, als Witz die ersten nieder-
ländischen Bilder zu sehen bekam, schon in seiner bisherigen
Entwicklung etwas gelegen haben, das ihnen entgegen kam.
Wenn wir neben Witz seine Landsleute Lochner, Moser und
Multscher im selben Strome schwimmen sahen, so heißt das
doch, daß die schwäbische Ecke zwischen Bodensee und Ulm
frühzeitig -- früher als irgendeine andere deutsche Landschaft
-- in die Übergangsbewegung eingetreten war. Nicht völlig
beziehungslos zur burgundisch-niederländischen Bewegung, aber
doch auch nicht ohne eigenen Antrieb.

Der Ulmer Apostelmeister

Für wenige Entwicklungsepochen in der Geschichte der deut-
schen Kunst sind wir zurzeit so lebhaft interessiert, als für
die Anfänge des Realismus im 15. Jahrhundert. Das Schwierige
im Problem ist, daß es sich eigentlich um zwei Bewegungen handelt:
um fremde Einströmungen, daneben aber gewiß auch um ein
spontanes Erwachen. Und auch der erste Faktor ist nicht so
einfacher Natur, wie man es sich früher vorstellte. Den nieder-
ländisch-burgundischen Anregungen gingen italienische voraus,
und die Wege, auf denen die einen und die anderen kommen, sind
nichts weniger als geradlinig. Die Unruhe, die die Kunst von
innen heraus ergriffen hat, setzt sich in äußere Bewegung um;
sprunghaftes Eingreifen von Wanderkünstlern wird öfters wich-
tiger, als die normale Fortentwicklung der Schulen.

Der folgende Fall wird auf diese Verhältnisse ein in mancher
Hinsicht interessantes Streiflicht werfen.

Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit
auf deren Beantwortung allerdings die Forschung heute noch
nicht vorbereitet ist; wie verhält sich Witz zur gleichzeitigen
schwäbischen Mystik? und besteht vielleicht eine Verdingungs-
linie zwischen ihr und dem Slütenschen Kreise? Witz' Ge-
stalten, wie sie auch im neuen malerischen Sinne zu ihrer
Umgebung in Beziehung gesetzt sind, haben doch zugleich
etwas plastisch Festes und Abgeschlossenes, das nicht weniger
neu ist. In jedem Falle muß, als Witz die ersten nieder-
ländischen Bilder zu sehen bekam, schon in seiner bisherigen
Entwicklung etwas gelegen haben, das ihnen entgegen kam.
Wenn wir neben Witz seine Landsleute Lochner, Moser und
Multscher im selben Strome schwimmen sahen, so heißt das
doch, daß die schwäbische Ecke zwischen Bodensee und Ulm
frühzeitig — früher als irgendeine andere deutsche Landschaft
— in die Übergangsbewegung eingetreten war. Nicht völlig
beziehungslos zur burgundisch-niederländischen Bewegung, aber
doch auch nicht ohne eigenen Antrieb.

Der Ulmer Apostelmeister

Für wenige Entwicklungsepochen in der Geschichte der deut-
schen Kunst sind wir zurzeit so lebhaft interessiert, als für
die Anfänge des Realismus im 15. Jahrhundert. Das Schwierige
im Problem ist, daß es sich eigentlich um zwei Bewegungen handelt:
um fremde Einströmungen, daneben aber gewiß auch um ein
spontanes Erwachen. Und auch der erste Faktor ist nicht so
einfacher Natur, wie man es sich früher vorstellte. Den nieder-
ländisch-burgundischen Anregungen gingen italienische voraus,
und die Wege, auf denen die einen und die anderen kommen, sind
nichts weniger als geradlinig. Die Unruhe, die die Kunst von
innen heraus ergriffen hat, setzt sich in äußere Bewegung um;
sprunghaftes Eingreifen von Wanderkünstlern wird öfters wich-
tiger, als die normale Fortentwicklung der Schulen.

Der folgende Fall wird auf diese Verhältnisse ein in mancher
Hinsicht interessantes Streiflicht werfen.

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[128/0150] Aus dem Übergang des Mittelalters zur Neuzeit auf deren Beantwortung allerdings die Forschung heute noch nicht vorbereitet ist; wie verhält sich Witz zur gleichzeitigen schwäbischen Mystik? und besteht vielleicht eine Verdingungs- linie zwischen ihr und dem Slütenschen Kreise? Witz' Ge- stalten, wie sie auch im neuen malerischen Sinne zu ihrer Umgebung in Beziehung gesetzt sind, haben doch zugleich etwas plastisch Festes und Abgeschlossenes, das nicht weniger neu ist. In jedem Falle muß, als Witz die ersten nieder- ländischen Bilder zu sehen bekam, schon in seiner bisherigen Entwicklung etwas gelegen haben, das ihnen entgegen kam. Wenn wir neben Witz seine Landsleute Lochner, Moser und Multscher im selben Strome schwimmen sahen, so heißt das doch, daß die schwäbische Ecke zwischen Bodensee und Ulm frühzeitig — früher als irgendeine andere deutsche Landschaft — in die Übergangsbewegung eingetreten war. Nicht völlig beziehungslos zur burgundisch-niederländischen Bewegung, aber doch auch nicht ohne eigenen Antrieb. Der Ulmer Apostelmeister Für wenige Entwicklungsepochen in der Geschichte der deut- schen Kunst sind wir zurzeit so lebhaft interessiert, als für die Anfänge des Realismus im 15. Jahrhundert. Das Schwierige im Problem ist, daß es sich eigentlich um zwei Bewegungen handelt: um fremde Einströmungen, daneben aber gewiß auch um ein spontanes Erwachen. Und auch der erste Faktor ist nicht so einfacher Natur, wie man es sich früher vorstellte. Den nieder- ländisch-burgundischen Anregungen gingen italienische voraus, und die Wege, auf denen die einen und die anderen kommen, sind nichts weniger als geradlinig. Die Unruhe, die die Kunst von innen heraus ergriffen hat, setzt sich in äußere Bewegung um; sprunghaftes Eingreifen von Wanderkünstlern wird öfters wich- tiger, als die normale Fortentwicklung der Schulen. Der folgende Fall wird auf diese Verhältnisse ein in mancher Hinsicht interessantes Streiflicht werfen.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/150>, abgerufen am 19.03.2024.