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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
daß ihre Endergebnisse einst Gemeingut derer werden, die in dieser
irdischen Laufbahn auf verschiedenen Punkten zurückgeblieben sind;
keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt
allen offenbar wird, was sie zuvor ohne ihr Wissen als Träger
dieser Entwicklung erlitten 1). Gefühl gegen Gefühl (denn in ein
solches verschwimmt nun hier schließlich die Betrachtung des
Plans der Geschichte, die einst in Augustinus mit so harten Reali-
täten begann, und scheint sich so selber in einen feinen Nebel auf-
zulösen): diese elegische Vorstellung von einem beschaulichen Antheil
der Abgeschiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche
an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem
Himmelsgewölk den Märtyrern zusehn, wie sie sich noch plagen
müssen, erscheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zu viel,
in träumenden aber als zu wenig, da das Endergebniß der Ent-
wicklung der Menschheit nur im Erlebniß besessen werden kann,
nicht in müßiger Betrachtung.



XVI.
Ihre Methoden sind falsch.

Ist sonach die Aufgabe, welche diese Wissenschaften sich stellten,
an sich unlösbar, so sind ferner die Methoden derselben wohl dazu
verwerthbar, durch Generalisationen zu blenden, aber nicht dazu,
eine bleibende Erweiterung der Erkenntniß herbeizuführen.

Die Methode der deutschen Philosophie der Geschichte
entsprang einer Bewegung, welche im Gegensatz gegen das vom
18. Jahrhundert geschaffene natürliche System der Geisteswissen-
schaften sich in die Thatsächlichkeit des Geschichtlichen versenkte.
Die Träger dieser Bewegung waren Winckelmann, Herder, die
Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten sich eines Verfahrens,
welches ich als das der genialen Anschauung bezeichne. Es war
dies Verfahren keine besondere Methode, sondern der Proceß der

1) Lotze, Mikrokosmos 3, 52 (erste Auflage).

Erſtes einleitendes Buch.
daß ihre Endergebniſſe einſt Gemeingut derer werden, die in dieſer
irdiſchen Laufbahn auf verſchiedenen Punkten zurückgeblieben ſind;
keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt
allen offenbar wird, was ſie zuvor ohne ihr Wiſſen als Träger
dieſer Entwicklung erlitten 1). Gefühl gegen Gefühl (denn in ein
ſolches verſchwimmt nun hier ſchließlich die Betrachtung des
Plans der Geſchichte, die einſt in Auguſtinus mit ſo harten Reali-
täten begann, und ſcheint ſich ſo ſelber in einen feinen Nebel auf-
zulöſen): dieſe elegiſche Vorſtellung von einem beſchaulichen Antheil
der Abgeſchiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche
an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem
Himmelsgewölk den Märtyrern zuſehn, wie ſie ſich noch plagen
müſſen, erſcheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zu viel,
in träumenden aber als zu wenig, da das Endergebniß der Ent-
wicklung der Menſchheit nur im Erlebniß beſeſſen werden kann,
nicht in müßiger Betrachtung.



XVI.
Ihre Methoden ſind falſch.

Iſt ſonach die Aufgabe, welche dieſe Wiſſenſchaften ſich ſtellten,
an ſich unlösbar, ſo ſind ferner die Methoden derſelben wohl dazu
verwerthbar, durch Generaliſationen zu blenden, aber nicht dazu,
eine bleibende Erweiterung der Erkenntniß herbeizuführen.

Die Methode der deutſchen Philoſophie der Geſchichte
entſprang einer Bewegung, welche im Gegenſatz gegen das vom
18. Jahrhundert geſchaffene natürliche Syſtem der Geiſteswiſſen-
ſchaften ſich in die Thatſächlichkeit des Geſchichtlichen verſenkte.
Die Träger dieſer Bewegung waren Winckelmann, Herder, die
Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten ſich eines Verfahrens,
welches ich als das der genialen Anſchauung bezeichne. Es war
dies Verfahren keine beſondere Methode, ſondern der Proceß der

1) Lotze, Mikrokosmos 3, 52 (erſte Auflage).
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[130/0153] Erſtes einleitendes Buch. daß ihre Endergebniſſe einſt Gemeingut derer werden, die in dieſer irdiſchen Laufbahn auf verſchiedenen Punkten zurückgeblieben ſind; keine Entwicklung einer Idee hat Bedeutung, wenn nicht zuletzt allen offenbar wird, was ſie zuvor ohne ihr Wiſſen als Träger dieſer Entwicklung erlitten 1). Gefühl gegen Gefühl (denn in ein ſolches verſchwimmt nun hier ſchließlich die Betrachtung des Plans der Geſchichte, die einſt in Auguſtinus mit ſo harten Reali- täten begann, und ſcheint ſich ſo ſelber in einen feinen Nebel auf- zulöſen): dieſe elegiſche Vorſtellung von einem beſchaulichen Antheil der Abgeſchiedenen an dem, was wir hier durchkämpfen, welche an die Engelsköpfe erinnert, die auf alten Bildern aus dem Himmelsgewölk den Märtyrern zuſehn, wie ſie ſich noch plagen müſſen, erſcheint uns in den Stunden nüchterner Kritik als zu viel, in träumenden aber als zu wenig, da das Endergebniß der Ent- wicklung der Menſchheit nur im Erlebniß beſeſſen werden kann, nicht in müßiger Betrachtung. XVI. Ihre Methoden ſind falſch. Iſt ſonach die Aufgabe, welche dieſe Wiſſenſchaften ſich ſtellten, an ſich unlösbar, ſo ſind ferner die Methoden derſelben wohl dazu verwerthbar, durch Generaliſationen zu blenden, aber nicht dazu, eine bleibende Erweiterung der Erkenntniß herbeizuführen. Die Methode der deutſchen Philoſophie der Geſchichte entſprang einer Bewegung, welche im Gegenſatz gegen das vom 18. Jahrhundert geſchaffene natürliche Syſtem der Geiſteswiſſen- ſchaften ſich in die Thatſächlichkeit des Geſchichtlichen verſenkte. Die Träger dieſer Bewegung waren Winckelmann, Herder, die Schlegel, W. v. Humboldt. Sie bedienten ſich eines Verfahrens, welches ich als das der genialen Anſchauung bezeichne. Es war dies Verfahren keine beſondere Methode, ſondern der Proceß der 1) Lotze, Mikrokosmos 3, 52 (erſte Auflage).

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/153>, abgerufen am 25.04.2024.