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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die aristotelische Metaphysik und die Naturwissenschaft.
gliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieser Zauberkreis der
Anschauung eines idealen Zusammenhangs schließt sich in
sich, scheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es ist der Triumph
der Metaphysik, ihm alle Thatsachen, welche die Erfahrung darbietet,
einzuordnen. -- Dieser geschichtliche Thatbestand kann keinem Zweifel
unterliegen, und es kann sich nur fragen, welche Tragweite er als
Erklärungsgrund habe. Es sei jedoch gestattet, einen zweiten Er-
klärungsgrund
von mehr hypothetischem Charakter einzuführen.
Die abgesonderte Betrachtung eines Kreises zusammengehöriger Theil-
inhalte. wie sie Mechanik, Optik, Akustik darbieten, setzt einen hohen
Grad von Abstraktion in dem Forscher voraus, welcher nur das
Ergebniß langer technischer Ausbildung der isolirten
Wissenschaft
ist. In der Mathematik war eine solche Abstraktion
durch später zu erörternde psychologische Verhältnisse von Anfang an
vorbereitet. In der Astronomie wurde in Folge der Entfernung
der Gestirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer
übrigen Eigenschaften losgelöst. Aber auf keinem anderen Gebiet
ist vor der alexandrinischen Schule eine Anzahl verwandter, zusammen-
gehöriger Theilinhalte der Naturerscheinungen einer bestimmten und
ihnen angemessenen erklärenden Vorstellung unterworfen worden.
Geniale Apercus wie das der pythagoreischen Schule über die
Tonverhältnisse hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beschrei-
bende und vergleichende Naturwissenschaft bedurfte solcher Ab-
straktion nicht, sie hatte in der Vorstellung des Zweckes einen
Leitfaden und führte vorläufig auf psychische Ursachen zurück. So
erklärt sich die Verbindung der glänzenden Leistungen der aristo-
telischen Schule auf diesem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel
gesunder mechanischer und physikalischer Vorstellungen in derselben.

Die Gottheit als der letzte und höchste Gegenstand
der Metaphysik.

Den Schlußpunkt der Metaphysik des Aristoteles bildet seine
Theologie. In ihr vollzieht sich erst die vollständige Verknüpfung
des anaxagoreischen Monotheismus mit der Lehre von den
substantialen Formen.


Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft.
gliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieſer Zauberkreis der
Anſchauung eines idealen Zuſammenhangs ſchließt ſich in
ſich, ſcheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es iſt der Triumph
der Metaphyſik, ihm alle Thatſachen, welche die Erfahrung darbietet,
einzuordnen. — Dieſer geſchichtliche Thatbeſtand kann keinem Zweifel
unterliegen, und es kann ſich nur fragen, welche Tragweite er als
Erklärungsgrund habe. Es ſei jedoch geſtattet, einen zweiten Er-
klärungsgrund
von mehr hypothetiſchem Charakter einzuführen.
Die abgeſonderte Betrachtung eines Kreiſes zuſammengehöriger Theil-
inhalte. wie ſie Mechanik, Optik, Akuſtik darbieten, ſetzt einen hohen
Grad von Abſtraktion in dem Forſcher voraus, welcher nur das
Ergebniß langer techniſcher Ausbildung der iſolirten
Wiſſenſchaft
iſt. In der Mathematik war eine ſolche Abſtraktion
durch ſpäter zu erörternde pſychologiſche Verhältniſſe von Anfang an
vorbereitet. In der Aſtronomie wurde in Folge der Entfernung
der Geſtirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer
übrigen Eigenſchaften losgelöſt. Aber auf keinem anderen Gebiet
iſt vor der alexandriniſchen Schule eine Anzahl verwandter, zuſammen-
gehöriger Theilinhalte der Naturerſcheinungen einer beſtimmten und
ihnen angemeſſenen erklärenden Vorſtellung unterworfen worden.
Geniale Aperçus wie das der pythagoreiſchen Schule über die
Tonverhältniſſe hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beſchrei-
bende und vergleichende Naturwiſſenſchaft bedurfte ſolcher Ab-
ſtraktion nicht, ſie hatte in der Vorſtellung des Zweckes einen
Leitfaden und führte vorläufig auf pſychiſche Urſachen zurück. So
erklärt ſich die Verbindung der glänzenden Leiſtungen der ariſto-
teliſchen Schule auf dieſem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel
geſunder mechaniſcher und phyſikaliſcher Vorſtellungen in derſelben.

Die Gottheit als der letzte und höchſte Gegenſtand
der Metaphyſik.

Den Schlußpunkt der Metaphyſik des Ariſtoteles bildet ſeine
Theologie. In ihr vollzieht ſich erſt die vollſtändige Verknüpfung
des anaxagoreiſchen Monotheismus mit der Lehre von den
ſubſtantialen Formen.


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[265/0288] Die ariſtoteliſche Metaphyſik und die Naturwiſſenſchaft. gliederung des Lebendigen zurückgehalten. Dieſer Zauberkreis der Anſchauung eines idealen Zuſammenhangs ſchließt ſich in ſich, ſcheint nirgend eine Lücke zu zeigen, und es iſt der Triumph der Metaphyſik, ihm alle Thatſachen, welche die Erfahrung darbietet, einzuordnen. — Dieſer geſchichtliche Thatbeſtand kann keinem Zweifel unterliegen, und es kann ſich nur fragen, welche Tragweite er als Erklärungsgrund habe. Es ſei jedoch geſtattet, einen zweiten Er- klärungsgrund von mehr hypothetiſchem Charakter einzuführen. Die abgeſonderte Betrachtung eines Kreiſes zuſammengehöriger Theil- inhalte. wie ſie Mechanik, Optik, Akuſtik darbieten, ſetzt einen hohen Grad von Abſtraktion in dem Forſcher voraus, welcher nur das Ergebniß langer techniſcher Ausbildung der iſolirten Wiſſenſchaft iſt. In der Mathematik war eine ſolche Abſtraktion durch ſpäter zu erörternde pſychologiſche Verhältniſſe von Anfang an vorbereitet. In der Aſtronomie wurde in Folge der Entfernung der Geſtirne die Betrachtung ihrer Bewegungen von der ihrer übrigen Eigenſchaften losgelöſt. Aber auf keinem anderen Gebiet iſt vor der alexandriniſchen Schule eine Anzahl verwandter, zuſammen- gehöriger Theilinhalte der Naturerſcheinungen einer beſtimmten und ihnen angemeſſenen erklärenden Vorſtellung unterworfen worden. Geniale Aperçus wie das der pythagoreiſchen Schule über die Tonverhältniſſe hatten keine durchgreifenden Folgen. Die beſchrei- bende und vergleichende Naturwiſſenſchaft bedurfte ſolcher Ab- ſtraktion nicht, ſie hatte in der Vorſtellung des Zweckes einen Leitfaden und führte vorläufig auf pſychiſche Urſachen zurück. So erklärt ſich die Verbindung der glänzenden Leiſtungen der ariſto- teliſchen Schule auf dieſem Gebiet mit dem gänzlichen Mangel geſunder mechaniſcher und phyſikaliſcher Vorſtellungen in derſelben. Die Gottheit als der letzte und höchſte Gegenſtand der Metaphyſik. Den Schlußpunkt der Metaphyſik des Ariſtoteles bildet ſeine Theologie. In ihr vollzieht ſich erſt die vollſtändige Verknüpfung des anaxagoreiſchen Monotheismus mit der Lehre von den ſubſtantialen Formen.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 265. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/288>, abgerufen am 29.03.2024.