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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das Christenthum.
Dritter Abschnitt.
Metaphysisches Stadium der neueren europäischen Völker.


Erstes Kapitel.
Christenthum, Erkenntnißtheorie und Metaphysik.

Man denkt sich wol den Menschen der ältesten Zeiten unseres
Geschlechtes, wie er, von der Höhle beschützt, von Nacht und Ge-
fahr umgeben, den Morgen erwartete; brach dann der Tag an,
und suchten ihn die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie
fühlte er das Herannahen einer erlösenden Macht! So haben
die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen
des aufsteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Christenthum
sie trafen. Wenn sie so fühlten, so war dies doch nicht allein
die Folge davon, daß der Christenglaube die feste Ueberzeugung
von einer seligen Unsterblichkeit mittheilte, sowie daß er eine neue
Gemeinschaft, ja eine neue bürgerliche Gesellschaft inmitten der
Zerrüttung der antiken Staaten darbot 1). Das eine wie das
andere war ein wichtiger Bestandtheil der Stärke der neuen
Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung
im Seelenleben.

Diese Veränderung allein und auch sie nur nach der Seite,
welche sie der Entwicklung des Zweckzusammenhangs der Erkennt-
niß zukehrt, kann in diesem Zusammenhang berührt werden.
Eine herbe Kritik des christlichen Bewußtseins zieht sich durch
Spinozas Ethik; ihr liegt zu Grunde, daß für Spinoza selber
Vollkommenheit nur Macht ist, Lebensfreude der Ausdruck dieser
wachsenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als
Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe

1) So Jakob Burckhardt, welcher in seinem Werk über die Zeit Kon-
stantin's des Großen die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt am tief-
sten dargestellt hat, ebds. S. 140 ff.
Das Chriſtenthum.
Dritter Abſchnitt.
Metaphyſiſches Stadium der neueren europäiſchen Völker.


Erſtes Kapitel.
Chriſtenthum, Erkenntnißtheorie und Metaphyſik.

Man denkt ſich wol den Menſchen der älteſten Zeiten unſeres
Geſchlechtes, wie er, von der Höhle beſchützt, von Nacht und Ge-
fahr umgeben, den Morgen erwartete; brach dann der Tag an,
und ſuchten ihn die erſten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie
fühlte er das Herannahen einer erlöſenden Macht! So haben
die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen
des aufſteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Chriſtenthum
ſie trafen. Wenn ſie ſo fühlten, ſo war dies doch nicht allein
die Folge davon, daß der Chriſtenglaube die feſte Ueberzeugung
von einer ſeligen Unſterblichkeit mittheilte, ſowie daß er eine neue
Gemeinſchaft, ja eine neue bürgerliche Geſellſchaft inmitten der
Zerrüttung der antiken Staaten darbot 1). Das eine wie das
andere war ein wichtiger Beſtandtheil der Stärke der neuen
Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung
im Seelenleben.

Dieſe Veränderung allein und auch ſie nur nach der Seite,
welche ſie der Entwicklung des Zweckzuſammenhangs der Erkennt-
niß zukehrt, kann in dieſem Zuſammenhang berührt werden.
Eine herbe Kritik des chriſtlichen Bewußtſeins zieht ſich durch
Spinozas Ethik; ihr liegt zu Grunde, daß für Spinoza ſelber
Vollkommenheit nur Macht iſt, Lebensfreude der Ausdruck dieſer
wachſenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als
Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe

1) So Jakob Burckhardt, welcher in ſeinem Werk über die Zeit Kon-
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ſten dargeſtellt hat, ebdſ. S. 140 ff.
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[315/0338] Das Chriſtenthum. Dritter Abſchnitt. Metaphyſiſches Stadium der neueren europäiſchen Völker. Erſtes Kapitel. Chriſtenthum, Erkenntnißtheorie und Metaphyſik. Man denkt ſich wol den Menſchen der älteſten Zeiten unſeres Geſchlechtes, wie er, von der Höhle beſchützt, von Nacht und Ge- fahr umgeben, den Morgen erwartete; brach dann der Tag an, und ſuchten ihn die erſten Strahlen der aufgehenden Sonne: wie fühlte er das Herannahen einer erlöſenden Macht! So haben die Bevölkerungen der alten Welt empfunden, als die Strahlen des aufſteigenden Lichtes aus einer reinen Welt im Chriſtenthum ſie trafen. Wenn ſie ſo fühlten, ſo war dies doch nicht allein die Folge davon, daß der Chriſtenglaube die feſte Ueberzeugung von einer ſeligen Unſterblichkeit mittheilte, ſowie daß er eine neue Gemeinſchaft, ja eine neue bürgerliche Geſellſchaft inmitten der Zerrüttung der antiken Staaten darbot 1). Das eine wie das andere war ein wichtiger Beſtandtheil der Stärke der neuen Religion. Jedoch war beides nur Folge einer tieferen Veränderung im Seelenleben. Dieſe Veränderung allein und auch ſie nur nach der Seite, welche ſie der Entwicklung des Zweckzuſammenhangs der Erkennt- niß zukehrt, kann in dieſem Zuſammenhang berührt werden. Eine herbe Kritik des chriſtlichen Bewußtſeins zieht ſich durch Spinozas Ethik; ihr liegt zu Grunde, daß für Spinoza ſelber Vollkommenheit nur Macht iſt, Lebensfreude der Ausdruck dieſer wachſenden Vollkommenheit, aller Schmerz dagegen nichts als Ausdruck der Unvollkommenheit und Ohnmacht. Das tiefe 1) So Jakob Burckhardt, welcher in ſeinem Werk über die Zeit Kon- ſtantin’s des Großen die erſten Jahrhunderte nach Chriſti Geburt am tief- ſten dargeſtellt hat, ebdſ. S. 140 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/338>, abgerufen am 25.04.2024.