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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Drittes Kapitel.
Die neue Generation von Völkern und ihr metaphysisches
Stadium.

Mehr als ein Jahrtausend liegt zwischen Augustinus und den
Zeiten von Copernicus, Luther, Galilei, Descartes, Hugo de Groot.
In den Mittelmeerstaaten des Alterthums hatte sich die bisher
dargelegte Metaphysik entwickelt; eine Metaphysik als Grundlegung
der Wissenschaften ist nun auch der neuen Generation von Völkern
überliefert worden, welche in die Erbschaft der älteren eintrat.

Augustinus erlebte, daß die Germanen als Herren in der
Stadt Rom schalteten, ihnen fiel im Occident die Herrschaft
zu, im Morgenlande erhoben sich die Araber. Wie diese Völker
bis dahin vorwiegend in religiösen Vorstellungen den Gehalt
ihres intellektuellen Lebens besessen hatten, war es naturgemäß,
daß die theologischen und metapysischen Probleme sie mächtig er-
griffen. Eine parallele Entwicklung vollzog sich bei den
Völkern des Islam und in der Christenheit; auffallende
Analogien dieser Entwicklung treten in dem langen Zeitraum
theologischer Metaphysik hervor. Doch machte sich schon darin
ein tiefer Gegensatz bemerkbar: die Araber nahmen neben der
Metaphysik der Griechen deren mathematisch-naturwissenschaftliche
Arbeiten auf; die Metaphysik des Abendlandes erarbeitete eine
tiefere Auffassung der menschlich-geschichtlichen Welt, im Zusammen-
hang mit der selbständigen Aktivität der germanisch-romanischen
Völker im politischen Leben.

Die Gedankenarbeit der Araber begann in der theologischen
Bewegung und diese bildet die erste Epoche ihres Geisteslebens.
Die Mutaziliten, die arabischen Rationalisten, haben die Probleme
behandelt, welche unabhängig von jedem Studium der Außenwelt
da entspringen, wo die Erfahrungen des sittlich-religiösen Lebens
einen klar abgegrenzten Ausdruck in bestimmten Vorstellungen
suchen. So oft innerhalb eines monotheistischen Glaubens ein
solcher Ausdruck hingestellt wird, treten die im religiösen Vor-

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Drittes Kapitel.
Die neue Generation von Völkern und ihr metaphyſiſches
Stadium.

Mehr als ein Jahrtauſend liegt zwiſchen Auguſtinus und den
Zeiten von Copernicus, Luther, Galilei, Descartes, Hugo de Groot.
In den Mittelmeerſtaaten des Alterthums hatte ſich die bisher
dargelegte Metaphyſik entwickelt; eine Metaphyſik als Grundlegung
der Wiſſenſchaften iſt nun auch der neuen Generation von Völkern
überliefert worden, welche in die Erbſchaft der älteren eintrat.

Auguſtinus erlebte, daß die Germanen als Herren in der
Stadt Rom ſchalteten, ihnen fiel im Occident die Herrſchaft
zu, im Morgenlande erhoben ſich die Araber. Wie dieſe Völker
bis dahin vorwiegend in religiöſen Vorſtellungen den Gehalt
ihres intellektuellen Lebens beſeſſen hatten, war es naturgemäß,
daß die theologiſchen und metapyſiſchen Probleme ſie mächtig er-
griffen. Eine parallele Entwicklung vollzog ſich bei den
Völkern des Islam und in der Chriſtenheit; auffallende
Analogien dieſer Entwicklung treten in dem langen Zeitraum
theologiſcher Metaphyſik hervor. Doch machte ſich ſchon darin
ein tiefer Gegenſatz bemerkbar: die Araber nahmen neben der
Metaphyſik der Griechen deren mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche
Arbeiten auf; die Metaphyſik des Abendlandes erarbeitete eine
tiefere Auffaſſung der menſchlich-geſchichtlichen Welt, im Zuſammen-
hang mit der ſelbſtändigen Aktivität der germaniſch-romaniſchen
Völker im politiſchen Leben.

Die Gedankenarbeit der Araber begann in der theologiſchen
Bewegung und dieſe bildet die erſte Epoche ihres Geiſteslebens.
Die Mutaziliten, die arabiſchen Rationaliſten, haben die Probleme
behandelt, welche unabhängig von jedem Studium der Außenwelt
da entſpringen, wo die Erfahrungen des ſittlich-religiöſen Lebens
einen klar abgegrenzten Ausdruck in beſtimmten Vorſtellungen
ſuchen. So oft innerhalb eines monotheiſtiſchen Glaubens ein
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[338/0361] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Drittes Kapitel. Die neue Generation von Völkern und ihr metaphyſiſches Stadium. Mehr als ein Jahrtauſend liegt zwiſchen Auguſtinus und den Zeiten von Copernicus, Luther, Galilei, Descartes, Hugo de Groot. In den Mittelmeerſtaaten des Alterthums hatte ſich die bisher dargelegte Metaphyſik entwickelt; eine Metaphyſik als Grundlegung der Wiſſenſchaften iſt nun auch der neuen Generation von Völkern überliefert worden, welche in die Erbſchaft der älteren eintrat. Auguſtinus erlebte, daß die Germanen als Herren in der Stadt Rom ſchalteten, ihnen fiel im Occident die Herrſchaft zu, im Morgenlande erhoben ſich die Araber. Wie dieſe Völker bis dahin vorwiegend in religiöſen Vorſtellungen den Gehalt ihres intellektuellen Lebens beſeſſen hatten, war es naturgemäß, daß die theologiſchen und metapyſiſchen Probleme ſie mächtig er- griffen. Eine parallele Entwicklung vollzog ſich bei den Völkern des Islam und in der Chriſtenheit; auffallende Analogien dieſer Entwicklung treten in dem langen Zeitraum theologiſcher Metaphyſik hervor. Doch machte ſich ſchon darin ein tiefer Gegenſatz bemerkbar: die Araber nahmen neben der Metaphyſik der Griechen deren mathematiſch-naturwiſſenſchaftliche Arbeiten auf; die Metaphyſik des Abendlandes erarbeitete eine tiefere Auffaſſung der menſchlich-geſchichtlichen Welt, im Zuſammen- hang mit der ſelbſtändigen Aktivität der germaniſch-romaniſchen Völker im politiſchen Leben. Die Gedankenarbeit der Araber begann in der theologiſchen Bewegung und dieſe bildet die erſte Epoche ihres Geiſteslebens. Die Mutaziliten, die arabiſchen Rationaliſten, haben die Probleme behandelt, welche unabhängig von jedem Studium der Außenwelt da entſpringen, wo die Erfahrungen des ſittlich-religiöſen Lebens einen klar abgegrenzten Ausdruck in beſtimmten Vorſtellungen ſuchen. So oft innerhalb eines monotheiſtiſchen Glaubens ein ſolcher Ausdruck hingeſtellt wird, treten die im religiöſen Vor-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/361>, abgerufen am 24.04.2024.