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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Form seines eigenen Vorstellens in der Zeit zu durchbrechen
strebt 1); oder wenn Andere Gottes Vorsehung nur auf das All-
gemeine bezogen denken wollen und der Verstand so den Glaubens-
inhalt vernichtet, indem er ihn zu retten bemüht ist.

Der Ausgang des Ringens mit dieser Klasse von Antinomien
im Mittelalter war verschieden bei den Theologen des Islam und
denen des Christenthums. Während sich der Islam dem Unter-
gang aller individuellen Freiheit in der göttlichen Macht zuneigt,
dem Gott des Despotismus und der flachen Wüste, erhebt sich in
der Christenheit immer mächtiger das Bewußtsein der persön-
lichen Freiheit des Individuums. Es hat seinen Sitz in der
Franciscanerschule, Duns Scotus hat die erste gründliche Theorie
des Willens in seinem Verhältniß zum Verstande geschaffen 2),
und in Occam tritt der erkenntnißtheoretische Gegensatz zwischen
unmittelbarem Wissen und dem an der Hand des Satzes vom
Grunde fortschreitenden Erkennen auf, die Bedingung für das
Verständniß der Freiheit. Non potest probari (libertas volun-
tatis) per aliquam rationem. Potest tamen evidenter cog-
nosci per experientiam, per hoc, quod homo experitur, quod,
quantumcunque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas
hoc velle vel nolle
3).

Die Antinomien in der Vorstellung Gottes nach
seinen Eigenschaften
.

Eine zweite Klasse von Antinomien entspringt, indem die re-
ligiösen Erfahrungen, wie sie der Gottesidee zu Grunde liegen,
in Einem Vorstellungszusammenhang ausgedrückt werden. Die
Idee Gottes muß in die Ordnung der Vorstellungen eintreten, in
welcher auch unser Selbst und die Welt ihren Platz haben, und
doch kann den Anforderungen, welche an diese Idee das religiöse

1) Anselm de concordia etc., quaest. I.
2) Besonders in der Darlegung des Duns Scotus in sent. II dist.
42, 1 ff.
3) Occam quodlibeta septem, I qu. 16.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Form ſeines eigenen Vorſtellens in der Zeit zu durchbrechen
ſtrebt 1); oder wenn Andere Gottes Vorſehung nur auf das All-
gemeine bezogen denken wollen und der Verſtand ſo den Glaubens-
inhalt vernichtet, indem er ihn zu retten bemüht iſt.

Der Ausgang des Ringens mit dieſer Klaſſe von Antinomien
im Mittelalter war verſchieden bei den Theologen des Islam und
denen des Chriſtenthums. Während ſich der Islam dem Unter-
gang aller individuellen Freiheit in der göttlichen Macht zuneigt,
dem Gott des Despotismus und der flachen Wüſte, erhebt ſich in
der Chriſtenheit immer mächtiger das Bewußtſein der perſön-
lichen Freiheit des Individuums. Es hat ſeinen Sitz in der
Franciscanerſchule, Duns Scotus hat die erſte gründliche Theorie
des Willens in ſeinem Verhältniß zum Verſtande geſchaffen 2),
und in Occam tritt der erkenntnißtheoretiſche Gegenſatz zwiſchen
unmittelbarem Wiſſen und dem an der Hand des Satzes vom
Grunde fortſchreitenden Erkennen auf, die Bedingung für das
Verſtändniß der Freiheit. Non potest probari (libertas volun-
tatis) per aliquam rationem. Potest tamen evidenter cog-
nosci per experientiam, per hoc, quod homo experitur, quod,
quantumcunque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas
hoc velle vel nolle
3).

Die Antinomien in der Vorſtellung Gottes nach
ſeinen Eigenſchaften
.

Eine zweite Klaſſe von Antinomien entſpringt, indem die re-
ligiöſen Erfahrungen, wie ſie der Gottesidee zu Grunde liegen,
in Einem Vorſtellungszuſammenhang ausgedrückt werden. Die
Idee Gottes muß in die Ordnung der Vorſtellungen eintreten, in
welcher auch unſer Selbſt und die Welt ihren Platz haben, und
doch kann den Anforderungen, welche an dieſe Idee das religiöſe

1) Anſelm de concordia etc., quaest. I.
2) Beſonders in der Darlegung des Duns Scotus in sent. II dist.
42, 1 ff.
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[362/0385] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Form ſeines eigenen Vorſtellens in der Zeit zu durchbrechen ſtrebt 1); oder wenn Andere Gottes Vorſehung nur auf das All- gemeine bezogen denken wollen und der Verſtand ſo den Glaubens- inhalt vernichtet, indem er ihn zu retten bemüht iſt. Der Ausgang des Ringens mit dieſer Klaſſe von Antinomien im Mittelalter war verſchieden bei den Theologen des Islam und denen des Chriſtenthums. Während ſich der Islam dem Unter- gang aller individuellen Freiheit in der göttlichen Macht zuneigt, dem Gott des Despotismus und der flachen Wüſte, erhebt ſich in der Chriſtenheit immer mächtiger das Bewußtſein der perſön- lichen Freiheit des Individuums. Es hat ſeinen Sitz in der Franciscanerſchule, Duns Scotus hat die erſte gründliche Theorie des Willens in ſeinem Verhältniß zum Verſtande geſchaffen 2), und in Occam tritt der erkenntnißtheoretiſche Gegenſatz zwiſchen unmittelbarem Wiſſen und dem an der Hand des Satzes vom Grunde fortſchreitenden Erkennen auf, die Bedingung für das Verſtändniß der Freiheit. Non potest probari (libertas volun- tatis) per aliquam rationem. Potest tamen evidenter cog- nosci per experientiam, per hoc, quod homo experitur, quod, quantumcunque ratio dictet aliquid, potest tamen voluntas hoc velle vel nolle 3). Die Antinomien in der Vorſtellung Gottes nach ſeinen Eigenſchaften. Eine zweite Klaſſe von Antinomien entſpringt, indem die re- ligiöſen Erfahrungen, wie ſie der Gottesidee zu Grunde liegen, in Einem Vorſtellungszuſammenhang ausgedrückt werden. Die Idee Gottes muß in die Ordnung der Vorſtellungen eintreten, in welcher auch unſer Selbſt und die Welt ihren Platz haben, und doch kann den Anforderungen, welche an dieſe Idee das religiöſe 1) Anſelm de concordia etc., quaest. I. 2) Beſonders in der Darlegung des Duns Scotus in sent. II dist. 42, 1 ff. 3) Occam quodlibeta septem, I qu. 16.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 362. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/385>, abgerufen am 29.03.2024.