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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können.
Tritt man aber in die Welt des Geistes und untersucht die Natur,
sofern sie Inhalt des Geistes, sofern sie als Zweck oder Mittel
in den Willen eingewoben ist: für den Geist ist sie eben, was
sie in ihm ist, und was sie an sich sein mag, ist hier ganz gleich-
gültig. Genug daß er so, wie sie ihm gegeben ist, auf ihre Gesetz-
mäßigkeit in seinen Handlungen rechnen und den schönen Schein
ihres Daseins genießen kann.



IV.
Die Uebersichten über die Geisteswissenschaften.

Es muß versucht werden, dem, welcher in das vorliegende
Werk über die Geisteswissenschaften eintritt, einen vorläufigen
Ueberblick über den Umfang dieser anderen Hälfte des globus
intellectualis
zu geben, und vermittelst desselben die Aufgabe des
Werkes zu bestimmen.

Die Wissenschaften des Geistes sind noch nicht als ein Ganzes
constituirt; noch vermögen sie nicht einen Zusammenhang aufzu-
stellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängig-
keitsverhältnissen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung
geordnet wären.

Diese Wissenschaften sind in der Praxis des Lebens selber er-
wachsen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und
die Systematik der dieser Berufsbildung dienenden Fakultäten
ist daher die naturgewachsene Form des Zusammenhangs derselben.
Wurden doch ihre ersten Begriffe und Regeln zumeist in der Aus-
übung der gesellschaftlichen Funktionen selber gefunden. Ihering
hat nachgewiesen, wie juristisches Denken durch eine im Rechts-
leben selber sich vollbringende bewußte geistige Arbeit die Grund-
begriffe des römischen Rechts geschaffen hat. So zeigt auch die
Analyse der älteren griechischen Verfassungen in ihnen die Nieder-
schläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politischen

Erſtes einleitendes Buch.
keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können.
Tritt man aber in die Welt des Geiſtes und unterſucht die Natur,
ſofern ſie Inhalt des Geiſtes, ſofern ſie als Zweck oder Mittel
in den Willen eingewoben iſt: für den Geiſt iſt ſie eben, was
ſie in ihm iſt, und was ſie an ſich ſein mag, iſt hier ganz gleich-
gültig. Genug daß er ſo, wie ſie ihm gegeben iſt, auf ihre Geſetz-
mäßigkeit in ſeinen Handlungen rechnen und den ſchönen Schein
ihres Daſeins genießen kann.



IV.
Die Ueberſichten über die Geiſteswiſſenſchaften.

Es muß verſucht werden, dem, welcher in das vorliegende
Werk über die Geiſteswiſſenſchaften eintritt, einen vorläufigen
Ueberblick über den Umfang dieſer anderen Hälfte des globus
intellectualis
zu geben, und vermittelſt deſſelben die Aufgabe des
Werkes zu beſtimmen.

Die Wiſſenſchaften des Geiſtes ſind noch nicht als ein Ganzes
conſtituirt; noch vermögen ſie nicht einen Zuſammenhang aufzu-
ſtellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängig-
keitsverhältniſſen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung
geordnet wären.

Dieſe Wiſſenſchaften ſind in der Praxis des Lebens ſelber er-
wachſen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und
die Syſtematik der dieſer Berufsbildung dienenden Fakultäten
iſt daher die naturgewachſene Form des Zuſammenhangs derſelben.
Wurden doch ihre erſten Begriffe und Regeln zumeiſt in der Aus-
übung der geſellſchaftlichen Funktionen ſelber gefunden. Ihering
hat nachgewieſen, wie juriſtiſches Denken durch eine im Rechts-
leben ſelber ſich vollbringende bewußte geiſtige Arbeit die Grund-
begriffe des römiſchen Rechts geſchaffen hat. So zeigt auch die
Analyſe der älteren griechiſchen Verfaſſungen in ihnen die Nieder-
ſchläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politiſchen

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[26/0049] Erſtes einleitendes Buch. keiten in dem Wirklichen aufgefaßt und benutzt werden können. Tritt man aber in die Welt des Geiſtes und unterſucht die Natur, ſofern ſie Inhalt des Geiſtes, ſofern ſie als Zweck oder Mittel in den Willen eingewoben iſt: für den Geiſt iſt ſie eben, was ſie in ihm iſt, und was ſie an ſich ſein mag, iſt hier ganz gleich- gültig. Genug daß er ſo, wie ſie ihm gegeben iſt, auf ihre Geſetz- mäßigkeit in ſeinen Handlungen rechnen und den ſchönen Schein ihres Daſeins genießen kann. IV. Die Ueberſichten über die Geiſteswiſſenſchaften. Es muß verſucht werden, dem, welcher in das vorliegende Werk über die Geiſteswiſſenſchaften eintritt, einen vorläufigen Ueberblick über den Umfang dieſer anderen Hälfte des globus intellectualis zu geben, und vermittelſt deſſelben die Aufgabe des Werkes zu beſtimmen. Die Wiſſenſchaften des Geiſtes ſind noch nicht als ein Ganzes conſtituirt; noch vermögen ſie nicht einen Zuſammenhang aufzu- ſtellen, in welchem die einzelnen Wahrheiten nach ihren Abhängig- keitsverhältniſſen von anderen Wahrheiten und von der Erfahrung geordnet wären. Dieſe Wiſſenſchaften ſind in der Praxis des Lebens ſelber er- wachſen, durch die Anforderungen der Berufsbildung entwickelt und die Syſtematik der dieſer Berufsbildung dienenden Fakultäten iſt daher die naturgewachſene Form des Zuſammenhangs derſelben. Wurden doch ihre erſten Begriffe und Regeln zumeiſt in der Aus- übung der geſellſchaftlichen Funktionen ſelber gefunden. Ihering hat nachgewieſen, wie juriſtiſches Denken durch eine im Rechts- leben ſelber ſich vollbringende bewußte geiſtige Arbeit die Grund- begriffe des römiſchen Rechts geſchaffen hat. So zeigt auch die Analyſe der älteren griechiſchen Verfaſſungen in ihnen die Nieder- ſchläge einer bewundernswürdigen Kraft bewußten politiſchen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/49>, abgerufen am 29.03.2024.