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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das Bewußtsein des Lebens in der Natur.
daher jene populären Darstellungen der Natur, welche in die
harten klaren Vorstellungen des das Sinnliche zerlegenden Ver-
standes ein täuschendes Spiel von innerer Lebendigkeit sentimental
hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung sind; während
die deutsche Naturphilosophie eine Verwirrung der Naturerkenntniß
durch Hineintragung des Geistes und eine Herabminderung des
Geistigen durch Versenkung in die Natur war, behält die Dich-
tung ihre unsterbliche Aufgabe.

Erhabner Geist, du gabst mir, gabst mir Alles,
Warum ich bat. Du hast mir nicht umsonst
Dein Angesicht im Feuer zugewendet.
Gabst mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, sie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt staunenden Besuch erlaubst du nur,
Vergönnest mir in ihre tiefe Brust,
Wie in den Busen eines Freunds, zu schauen.
Du führst die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrst mich meine Brüder
Im stillen Busch, in Luft und Wasser kennen.


Drittes Kapitel.
Die Geisteswissenschaften.

Aus der Metaphysik löste sich ein zweiter Zusammenhang
von Wissenschaften, der ebenfalls eine in unserer Erfahrung ge-
gebene Wirklichkeit zum Gegenstande hat und dieselbe aus ihr allein
erklärt. Auch hier hat die Analysis für immer die Begriffe zer-
stört, durch welche die metaphysische Epoche die Thatsachen ge-
deutet hatte. So ist die metaphysische Konstruktion der Gesellschaft
und Geschichte, welche das Mittelalter geschaffen hatte, nicht nur
an den dargelegten Widersprüchen und Lücken der Beweisführung
zu Grunde gegangen, sondern indem ihre Allgemeinvorstellungen
durch eine wirkliche Zerlegung in den Einzelwissenschaften des
Geistes ersetzt zu werden begannen.


Das Bewußtſein des Lebens in der Natur.
daher jene populären Darſtellungen der Natur, welche in die
harten klaren Vorſtellungen des das Sinnliche zerlegenden Ver-
ſtandes ein täuſchendes Spiel von innerer Lebendigkeit ſentimental
hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung ſind; während
die deutſche Naturphiloſophie eine Verwirrung der Naturerkenntniß
durch Hineintragung des Geiſtes und eine Herabminderung des
Geiſtigen durch Verſenkung in die Natur war, behält die Dich-
tung ihre unſterbliche Aufgabe.

Erhabner Geiſt, du gabſt mir, gabſt mir Alles,
Warum ich bat. Du haſt mir nicht umſonſt
Dein Angeſicht im Feuer zugewendet.
Gabſt mir die herrliche Natur zum Königreich,
Kraft, ſie zu fühlen, zu genießen. Nicht
Kalt ſtaunenden Beſuch erlaubſt du nur,
Vergönneſt mir in ihre tiefe Bruſt,
Wie in den Buſen eines Freunds, zu ſchauen.
Du führſt die Reihe der Lebendigen
Vor mir vorbei und lehrſt mich meine Brüder
Im ſtillen Buſch, in Luft und Waſſer kennen.


Drittes Kapitel.
Die Geiſteswiſſenſchaften.

Aus der Metaphyſik löſte ſich ein zweiter Zuſammenhang
von Wiſſenſchaften, der ebenfalls eine in unſerer Erfahrung ge-
gebene Wirklichkeit zum Gegenſtande hat und dieſelbe aus ihr allein
erklärt. Auch hier hat die Analyſis für immer die Begriffe zer-
ſtört, durch welche die metaphyſiſche Epoche die Thatſachen ge-
deutet hatte. So iſt die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft
und Geſchichte, welche das Mittelalter geſchaffen hatte, nicht nur
an den dargelegten Widerſprüchen und Lücken der Beweisführung
zu Grunde gegangen, ſondern indem ihre Allgemeinvorſtellungen
durch eine wirkliche Zerlegung in den Einzelwiſſenſchaften des
Geiſtes erſetzt zu werden begannen.


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[475/0498] Das Bewußtſein des Lebens in der Natur. daher jene populären Darſtellungen der Natur, welche in die harten klaren Vorſtellungen des das Sinnliche zerlegenden Ver- ſtandes ein täuſchendes Spiel von innerer Lebendigkeit ſentimental hineinverlegen, eine verwerfliche Zwitterbildung ſind; während die deutſche Naturphiloſophie eine Verwirrung der Naturerkenntniß durch Hineintragung des Geiſtes und eine Herabminderung des Geiſtigen durch Verſenkung in die Natur war, behält die Dich- tung ihre unſterbliche Aufgabe. Erhabner Geiſt, du gabſt mir, gabſt mir Alles, Warum ich bat. Du haſt mir nicht umſonſt Dein Angeſicht im Feuer zugewendet. Gabſt mir die herrliche Natur zum Königreich, Kraft, ſie zu fühlen, zu genießen. Nicht Kalt ſtaunenden Beſuch erlaubſt du nur, Vergönneſt mir in ihre tiefe Bruſt, Wie in den Buſen eines Freunds, zu ſchauen. Du führſt die Reihe der Lebendigen Vor mir vorbei und lehrſt mich meine Brüder Im ſtillen Buſch, in Luft und Waſſer kennen. Drittes Kapitel. Die Geiſteswiſſenſchaften. Aus der Metaphyſik löſte ſich ein zweiter Zuſammenhang von Wiſſenſchaften, der ebenfalls eine in unſerer Erfahrung ge- gebene Wirklichkeit zum Gegenſtande hat und dieſelbe aus ihr allein erklärt. Auch hier hat die Analyſis für immer die Begriffe zer- ſtört, durch welche die metaphyſiſche Epoche die Thatſachen ge- deutet hatte. So iſt die metaphyſiſche Konſtruktion der Geſellſchaft und Geſchichte, welche das Mittelalter geſchaffen hatte, nicht nur an den dargelegten Widerſprüchen und Lücken der Beweisführung zu Grunde gegangen, ſondern indem ihre Allgemeinvorſtellungen durch eine wirkliche Zerlegung in den Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes erſetzt zu werden begannen.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/498>, abgerufen am 29.03.2024.