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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
von den geistigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So
verfolgt sie das geistige Leben, von den Beziehungen, welche
zwischen der physiologischen Leistung der Sinnesorgane und dem
psychischen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung ob-
walten, zu denen zwischen dem Auftreten, Verschwinden, der Ver-
kettung der Vorstellungen einerseits, der Struktur und den Funk-
tionen des Gehirns andrerseits, bis zu denen, welche zwischen
dem Reflexmechanismus und motorischen System und entsprechend
der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung bestehen.



IX.
Stellung des Erkennens zu dem Zusammenhang geschichtlich-
gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Von dieser Zergliederung der einzelnen psycho-physischen Ein-
heiten ist diejenige unterschieden, welche das Ganze der geschichtlich-
gesellschaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenstande hat. Franzosen
und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieses Ganzen
entwickelnden Gesammtwissenschaft entworfen und dieselbe als
Sociologie bezeichnet. In der That kann die Erkenntniß der Ent-
wicklung der Gesellschaft nicht von der Erkenntniß ihres gegen-
wärtigen status getrennt werden. Beide Classen von Thatsachen
bilden Einen Zusammenhang. Der gegenwärtige Zustand, in
welchem die Gesellschaft sich befindet, ist das Ergebniß des früheren
und er ist zugleich die Bedingung des nächsten. Der ermittelte
status desselben in dem jetzigen Moment gehört im nächsten be-
reits der Geschichte an. Jeder Durchschnitt, der den status der
Gesellschaft in einem gegebenen Augenblick darstellt, ist daher, so-
bald man sich über den Moment erhebt, als ein geschichtlicher
Zustand zu betrachten. Der Begriff der Gesellschaft kann sonach
gebraucht werden, dieses sich entwickelnde Ganze zu bezeichnen 1).


1) Der Begriff der Sociologie oder Gesellschaftswissenschaft, wie Comte,
Spencer u. a. ihn fassen, muß ganz unterschieden werden von dem Begriff,
den Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft bei den deutschen Staatsrechts-

Erſtes einleitendes Buch.
von den geiſtigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So
verfolgt ſie das geiſtige Leben, von den Beziehungen, welche
zwiſchen der phyſiologiſchen Leiſtung der Sinnesorgane und dem
pſychiſchen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung ob-
walten, zu denen zwiſchen dem Auftreten, Verſchwinden, der Ver-
kettung der Vorſtellungen einerſeits, der Struktur und den Funk-
tionen des Gehirns andrerſeits, bis zu denen, welche zwiſchen
dem Reflexmechanismus und motoriſchen Syſtem und entſprechend
der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung beſtehen.



IX.
Stellung des Erkennens zu dem Zuſammenhang geſchichtlich-
geſellſchaftlicher Wirklichkeit.

Von dieſer Zergliederung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Ein-
heiten iſt diejenige unterſchieden, welche das Ganze der geſchichtlich-
geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande hat. Franzoſen
und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieſes Ganzen
entwickelnden Geſammtwiſſenſchaft entworfen und dieſelbe als
Sociologie bezeichnet. In der That kann die Erkenntniß der Ent-
wicklung der Geſellſchaft nicht von der Erkenntniß ihres gegen-
wärtigen status getrennt werden. Beide Claſſen von Thatſachen
bilden Einen Zuſammenhang. Der gegenwärtige Zuſtand, in
welchem die Geſellſchaft ſich befindet, iſt das Ergebniß des früheren
und er iſt zugleich die Bedingung des nächſten. Der ermittelte
status deſſelben in dem jetzigen Moment gehört im nächſten be-
reits der Geſchichte an. Jeder Durchſchnitt, der den status der
Geſellſchaft in einem gegebenen Augenblick darſtellt, iſt daher, ſo-
bald man ſich über den Moment erhebt, als ein geſchichtlicher
Zuſtand zu betrachten. Der Begriff der Geſellſchaft kann ſonach
gebraucht werden, dieſes ſich entwickelnde Ganze zu bezeichnen 1).


1) Der Begriff der Sociologie oder Geſellſchaftswiſſenſchaft, wie Comte,
Spencer u. a. ihn faſſen, muß ganz unterſchieden werden von dem Begriff,
den Geſellſchaft und Geſellſchaftswiſſenſchaft bei den deutſchen Staatsrechts-
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[44/0067] Erſtes einleitendes Buch. von den geiſtigen Veränderungen zu den körperlichen gehen. So verfolgt ſie das geiſtige Leben, von den Beziehungen, welche zwiſchen der phyſiologiſchen Leiſtung der Sinnesorgane und dem pſychiſchen Vorgang von Empfindung und Wahrnehmung ob- walten, zu denen zwiſchen dem Auftreten, Verſchwinden, der Ver- kettung der Vorſtellungen einerſeits, der Struktur und den Funk- tionen des Gehirns andrerſeits, bis zu denen, welche zwiſchen dem Reflexmechanismus und motoriſchen Syſtem und entſprechend der Lautbildung, Sprache und geregelten Bewegung beſtehen. IX. Stellung des Erkennens zu dem Zuſammenhang geſchichtlich- geſellſchaftlicher Wirklichkeit. Von dieſer Zergliederung der einzelnen pſycho-phyſiſchen Ein- heiten iſt diejenige unterſchieden, welche das Ganze der geſchichtlich- geſellſchaftlichen Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtande hat. Franzoſen und Engländer haben den Begriff einer die Theorie dieſes Ganzen entwickelnden Geſammtwiſſenſchaft entworfen und dieſelbe als Sociologie bezeichnet. In der That kann die Erkenntniß der Ent- wicklung der Geſellſchaft nicht von der Erkenntniß ihres gegen- wärtigen status getrennt werden. Beide Claſſen von Thatſachen bilden Einen Zuſammenhang. Der gegenwärtige Zuſtand, in welchem die Geſellſchaft ſich befindet, iſt das Ergebniß des früheren und er iſt zugleich die Bedingung des nächſten. Der ermittelte status deſſelben in dem jetzigen Moment gehört im nächſten be- reits der Geſchichte an. Jeder Durchſchnitt, der den status der Geſellſchaft in einem gegebenen Augenblick darſtellt, iſt daher, ſo- bald man ſich über den Moment erhebt, als ein geſchichtlicher Zuſtand zu betrachten. Der Begriff der Geſellſchaft kann ſonach gebraucht werden, dieſes ſich entwickelnde Ganze zu bezeichnen 1). 1) Der Begriff der Sociologie oder Geſellſchaftswiſſenſchaft, wie Comte, Spencer u. a. ihn faſſen, muß ganz unterſchieden werden von dem Begriff, den Geſellſchaft und Geſellſchaftswiſſenſchaft bei den deutſchen Staatsrechts-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/67>, abgerufen am 23.04.2024.