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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
Voraussetzung, sie wenden diese Wahrheiten auf die Wechselwirkung
von Individuen unter den Bedingungen des Naturzusammenhangs
an, und so entstehen die Wissenschaften der Systeme der Kultur
und ihrer Gestaltungen, der äußeren Organisation der Gesellschaft
und der einzelnen Verbände innerhalb derselben. An sich findet
die Wissenschaft zwischen dem Individuum und dem verwickelten
Verlauf der Geschichte drei große Classen von Objekten, die dem
Studium zu unterwerfen sind: die äußere Organisation der Ge-
sellschaft, die Systeme der Kultur in ihr und die Einzelvölker:
dauernde Thatbestände, unter denen der von Volksganzen der am
meisten complexe und schwierige ist. Wie sie alle drei nur Theil-
inhalte des wirklichen Lebens sind, so kann keiner ohne die Be-
ziehung auf das wissenschaftliche Studium des anderen historisch
aufgefaßt oder theoretisch behandelt werden. Jedoch ist, dem Ver-
hältniß der Verwicklung entsprechend, die Thatsache des Einzel-
volkes nur mit Hilfe der Analysis der beiden anderen Thatsachen
bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksseele, Volks-
geist, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur
dadurch anschaulich vorgestellt und analysirt werden, daß man zu-
nächst die verschiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache,
Religion, Kunst, in ihrer Wechselwirkung auffaßt. Dies nöthigt
zu dem nächsten Schritt in der Analysis der geschichtlich-gesell-
schaftlichen Wirklichkeit.



XI.
Unterscheidung von zwei weiteren Classen von
Einzelwissenschaften.

Wer die Erscheinungen der Geschichte und Gesellschaft studirt,
dem treten abstrakte Wesenheiten überall gegenüber, dergleichen
Kunst, Wissenschaft, Staat, Gesellschaft, Religion sind. Sie gleichen
zusammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen
zu dringen, und die sich doch nicht greifen lassen. Wie einst die

Erſtes einleitendes Buch.
Vorausſetzung, ſie wenden dieſe Wahrheiten auf die Wechſelwirkung
von Individuen unter den Bedingungen des Naturzuſammenhangs
an, und ſo entſtehen die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur
und ihrer Geſtaltungen, der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
und der einzelnen Verbände innerhalb derſelben. An ſich findet
die Wiſſenſchaft zwiſchen dem Individuum und dem verwickelten
Verlauf der Geſchichte drei große Claſſen von Objekten, die dem
Studium zu unterwerfen ſind: die äußere Organiſation der Ge-
ſellſchaft, die Syſteme der Kultur in ihr und die Einzelvölker:
dauernde Thatbeſtände, unter denen der von Volksganzen der am
meiſten complexe und ſchwierige iſt. Wie ſie alle drei nur Theil-
inhalte des wirklichen Lebens ſind, ſo kann keiner ohne die Be-
ziehung auf das wiſſenſchaftliche Studium des anderen hiſtoriſch
aufgefaßt oder theoretiſch behandelt werden. Jedoch iſt, dem Ver-
hältniß der Verwicklung entſprechend, die Thatſache des Einzel-
volkes nur mit Hilfe der Analyſis der beiden anderen Thatſachen
bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksſeele, Volks-
geiſt, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur
dadurch anſchaulich vorgeſtellt und analyſirt werden, daß man zu-
nächſt die verſchiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache,
Religion, Kunſt, in ihrer Wechſelwirkung auffaßt. Dies nöthigt
zu dem nächſten Schritt in der Analyſis der geſchichtlich-geſell-
ſchaftlichen Wirklichkeit.



XI.
Unterſcheidung von zwei weiteren Claſſen von
Einzelwiſſenſchaften.

Wer die Erſcheinungen der Geſchichte und Geſellſchaft ſtudirt,
dem treten abſtrakte Weſenheiten überall gegenüber, dergleichen
Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, Geſellſchaft, Religion ſind. Sie gleichen
zuſammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen
zu dringen, und die ſich doch nicht greifen laſſen. Wie einſt die

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[52/0075] Erſtes einleitendes Buch. Vorausſetzung, ſie wenden dieſe Wahrheiten auf die Wechſelwirkung von Individuen unter den Bedingungen des Naturzuſammenhangs an, und ſo entſtehen die Wiſſenſchaften der Syſteme der Kultur und ihrer Geſtaltungen, der äußeren Organiſation der Geſellſchaft und der einzelnen Verbände innerhalb derſelben. An ſich findet die Wiſſenſchaft zwiſchen dem Individuum und dem verwickelten Verlauf der Geſchichte drei große Claſſen von Objekten, die dem Studium zu unterwerfen ſind: die äußere Organiſation der Ge- ſellſchaft, die Syſteme der Kultur in ihr und die Einzelvölker: dauernde Thatbeſtände, unter denen der von Volksganzen der am meiſten complexe und ſchwierige iſt. Wie ſie alle drei nur Theil- inhalte des wirklichen Lebens ſind, ſo kann keiner ohne die Be- ziehung auf das wiſſenſchaftliche Studium des anderen hiſtoriſch aufgefaßt oder theoretiſch behandelt werden. Jedoch iſt, dem Ver- hältniß der Verwicklung entſprechend, die Thatſache des Einzel- volkes nur mit Hilfe der Analyſis der beiden anderen Thatſachen bearbeitet worden. Was durch den Ausdruck Volksſeele, Volks- geiſt, Nation und nationale Kultur bezeichnet werde, das kann nur dadurch anſchaulich vorgeſtellt und analyſirt werden, daß man zu- nächſt die verſchiedenen Seiten des Volkslebens, z. B. Sprache, Religion, Kunſt, in ihrer Wechſelwirkung auffaßt. Dies nöthigt zu dem nächſten Schritt in der Analyſis der geſchichtlich-geſell- ſchaftlichen Wirklichkeit. XI. Unterſcheidung von zwei weiteren Claſſen von Einzelwiſſenſchaften. Wer die Erſcheinungen der Geſchichte und Geſellſchaft ſtudirt, dem treten abſtrakte Weſenheiten überall gegenüber, dergleichen Kunſt, Wiſſenſchaft, Staat, Geſellſchaft, Religion ſind. Sie gleichen zuſammengeballten Nebeln, die den Blick hindern, zum Wirklichen zu dringen, und die ſich doch nicht greifen laſſen. Wie einſt die

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/75>, abgerufen am 19.04.2024.